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„Heute stehst du länger hier."

Ich schreckte hoch und sah zu dem bärtigen Besitzer des Tattoostudios. Er zog an einer Zigarette, ohne mich aus den Augen zu lassen. Heute wollte ich nicht oberflächig bleiben. Auf der Fensterbank im Studio lagen endlich Zeichnungen, die meinem Tattoo ähnelten. Dieser Mann hatte Ahnung von Tribal. Er könnte mit mir darüber reden und mir sagen, was für eine Bedeutung diese haben. Es könnte vielleicht meine Fragen beantworten.

„Tribal, richtig?"

Der Mann lächelte. „Habe ich deinen Geschmack also endlich getroffen?"

Ich nickte. Einmal mehr sah ich zu den verschiedenen Bildern hinab. Von den letzten Gesprächen wusste ich, dass all die Bilder auf irgendeinem Körper gestochen waren. Alles, was er auf Papier besaß, hatte er schon gestochen. Er legte keine Motive raus, die nicht durch seine Hand entstanden waren.

Da mein Tattoo nicht dabei lag, war es nicht hier entstanden.

Warum hatte ich es machen lassen? Welche Bedeutung hatte es? Ich hatte so viele Fragen zu meinem Leben, zu meinem ganzen Dasein. Da ich den Kontakt zu Kai bisher gemieden hatte, konnte ich ihm keine Fragen stellen. Der Schmerz saß noch zu tief, als Akio und Vince auf das Wiedersehen reagiert hatten. Damit konnte ich momentan nicht umgehen, weshalb ich seit Tagen nicht in den Park gegangen war.

„Damit zeigt man, welchem Stamm oder welcher Kultur man angehört", begann ich zu sagen und wendete mich dem Mann zu, „aber wieso lässt man sich sowas stechen, wenn man sich nirgendwo zugehörig fühlt?"

„Es ist modern." Er zog an der Zigarette und blies den Rauch aus. „Man zeigt damit nicht unbedingt einen kulturellen Hintergrund. Manche lassen es sich stechen, weil sie es schön finden. Hast du gesehen, welche Möglichkeiten man damit hat?"

Der Mann ließ die Zigarette fallen und zertrat sie, um sie anschließend aufzuheben. Danach stellte er sich neben mich und schaute mit mir auf die unterschiedlichen Bilder. Wir redeten über die Motive und was man zwischen die Linien stechen kann. Minutenlang plauderten wir über Unterschiede und Bedeutungen, über seine Erfahrungen und die Erzählungen seiner Kunden, die sich so etwas stechen lassen hatten.

„Hast du vor, dir eines stechen zu lassen?"

„Ich weiß es nicht."

„Das ist eine wichtige Entscheidung. Die Farbe bleibt dein ganzes Leben unter der Haut. Du musst überzeugt davon sein, sonst wirst du es irgendwann bereuen."

Bereuen tat ich es nicht. Wie auch? Ich erinnerte mich nicht. Ich kannte den Hintergrund nicht. Welche Geschichte verbarg sich hinter meinem Tribal? Was wollte ich mit einem Tattoo erzählen, das eher Männer trugen?

„Hallo, Vincent. Wir können direkt loslegen, wenn du möchtest."

„Gibst du mir noch ein paar Minuten? Ich qualme noch eine."

„Klar. Ich bereite den Raum vor", sagte der Besitzer und verabschiedete sich von mir. Er bemerkte nicht, wie sehr ich mit mir rang. Dass ich von Vince' Anwesenheit aus der Bahn geworfen worden war und nicht wusste, wie ich mit einem Freund umzugehen hatte, an den ich mich nicht erinnern konnte.

Vince musterte mich, glitt mit seinen Augen über meinen Körper. Eine Zigarette holte er nicht hervor.

„Ich bin von deiner Erscheinung immer noch völlig überwältigt." Ein Schmunzeln zeichnete sich von seinen Lippen ab. „Es ist schon ein Zufall, dass wir uns ausgerechnet bei einem Tattoostudio wiedersehen."

„Warum?"

Für einen Moment stutzte er und wirkte von meiner Frage überrascht, doch er fing sich und kam näher. Er stellte sich seitlich vor mir, um mir seinen rechten Arm zu zeigen. Mit dem Finger zeigte er auf eine Stelle, tippte neben das kleine Herz, das absolut nicht in dieses Tattoo passte. Aber es passte zu dem auf meinem Arm. Die Linien, das Herz. Ich bekam mein Tattoo in einem gesunden Zustand zu Gesicht.

Verloren - Zurück im LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt