2009
Ich überprüfte die Uhrzeit zum tausendsten Mal auf dem Papier. Heute durfte nichts schief gehen. Der Termin war wichtig für meine Zukunft.
„Bist du schon aufgeregt?" Rafe grinste mich breit an.
„Vermutlich sterbe ich an Herzrasen, bevor ich dort ankomme", witzelte ich.
Mein Bruder lachte und stieß mich an. „Du wirst das schaffen. Ich sehe schon, wie die anderen vor Freude ausflippen werden. Besonders Akio."
„Er sollte dabei sein. Ich denke zwar, dass er sich freuen wird, aber genauso wird er enttäuscht sein, weil ich es ohne ihn durchgezogen habe." Meine Hand legte ich auf die Mappe, die auf meinem Bett lag. „Immerhin betrifft es ihn auch."
„Erst mal musst du herausfinden, ob du eine Chance hast und dann könnt ihr das gemeinsam angehen. Stell dir nur vor, die sagen euch zu!", begann er zu schwärmen. „Ihr braucht gar nicht mehr zu studieren."
Ich lächelte verhalten. Vermutlich lag es an der Aufregung, dass ich nicht so überzeugt war wie er.
Mein Handy klingelte und kündigte eine neue Nachricht an.
Viel Glück heute, bei was auch immer. Ich will alles heute Abend wissen. Akio.
Ich antwortete mit einem Versprechen.
Schließlich stand ich auf und zog den Blazer über, den ich mir extra für heute gekauft hatte. Das gesamte Outfit war einzig dazu gedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen und nicht so jung zu wirken wie ich war. Ich wollte von mir überzeugen.
Rafe umarmte mich fest und wünschte mir alles Glück der Welt, bevor er mich das Haus verlassen ließ. Ich brauchte zehn Minuten bis zu der Bushaltestelle, sodass ich fünf Minuten warten müsste, bis der Bus kam. Die Zeit reichte aus. Im Internet stand, dass alles pünktlich fuhr und auf meiner Strecke mit keiner Verspätung gerechnet wurde. Alles würde gut werden.
In meiner großen Kunstmappe befand sich alles, was heute wichtig war. Es konnte die Zukunft von Akio und mir ändern. Jede Zeichnung und jedes Gemälde waren von uns beiden erstellt worden. Man musste uns beide akzeptieren, wenn man die Bilder wollte, die ich in den sozialen Kanälen hochgeladen hatte. Nur dadurch war man auf mich aufmerksam geworden.
Ich war noch mit meinem Handy beschäftigt, als man sich mir in den Weg stellte.
„Na sieh mal einer an, wen wir hier haben."
„Wenn das nicht die Bitch eines Bruders ist."
Mein Herz rutschte mir in die Hose. Das Handy steckte ich zügig in meine Hosentasche und blicke hoch.
Ich erkannte sie sofort.
Viel zu oft hatten wir uns gegenübergestanden. Viel zu oft hatten wir uns beleidigt. Viel zu oft hatte Rafe unter ihnen gelitten.
Ich streckte den Rücken durch. Sie sollten nicht denken, dass ich nur mit meinen Freunden stark war. Nicht diese Wichser. Mir ging zwar der Arsch auf Grundeis, aber ich würde es sie nicht merken lassen. Wir standen an einer Bushaltestelle. Zwei weitere Personen warteten auf den Bus und würden einschreiten, wenn sie meine Notsituation bemerkten.
„Was zum Teufel wollt ihr?"
„Eigentlich nur in die Stadt fahren", meinte einer der beiden und legte den Kopf nachdenklich schief, „aber ich glaube, ich habe eine bessere Idee." Er kam näher, ragte bedrohlich über mir und grinste. An seinem Gesicht war abzulesen, dass er meiner Fassade nicht glaubte. Ich konnte ihn noch so böse anfunkeln und meine gerade Haltung wahren, aber er durchschaute mich. Ohne Vince, der größer als der Kerl war, war ich nur ein Mädchen.
„Schön. Ich werde ...", sagte ich und ging vorbei. An der Ampel stand der Bus.
Meine Worte wurden jäh abgeschnitten, als der Wichser seine Hand wie einen Schraubstock um meinen Oberarm legte. „Du wirst mitkommen", sagte er. Es klang wie ein Befehl. Das war abartig. Er nahm sich zu viel heraus. Als könnte er irgendwas von mir verlangen.
„Du kannst ruhig laut werden", sagte der andere und stellte sich mir in den Weg. „Die werden nicht kommen. Das Mädchen kennt uns und der Typ sieht schon die ganze Zeit zu und unternimmt nichts."
Ich sah zu der Bushaltestelle und ertappte den jungen Mann beim Starren. Sofort drehte er den Kopf weg, blickte unter sich. Er wusste bescheid und tat nichts. Gar nichts. Nicht einmal ein Wort sagte er. Das Mädchen war auffällig in ihr Handy vertieft.
Es erinnerte mich an die Schulzeit, in der andere dauernd beim Mobbing zugesehen hatten. Sie hielten sich lieber raus, damit ihnen nichts geschah. Das war einfacher, statt selbst zum Opfer zu werden. Wenn die Täter jemanden in ihren Fängen hatten, brauchte man sich keine Sorgen um sein Leben machen. Man würde kein Opfer werden.
Hier war es nicht anders. Ich war auf mich allein gestellt.
Die beiden Kerle waren nur ein oder zwei Jahre älter als Rafe und somit jünger als ich. Trotzdem war ich verloren. Ohne Hilfe kam ich nicht aus dieser Situation raus.
„Gehen wir doch ein Stück, hm?" Der Griff an meinem Arm wurde schmerzhaft. Man zog mich mit sich, während der Bus an der Haltestelle stoppte und die beiden Gäste einsteigen ließ. Sie fuhren weg, wissend, dass ich Hilfe brauchte.
Sie gingen mit mir in eine Hofeinfahrt, in die man kaum Einblicke hatte. Wie sie mich herführten, gab mir die Bestätigung, dass sie das nicht zum ersten Mal taten. Vor mir waren andere hergebracht worden.
„Lass mich endlich los", zischte ich und zerrte an meinem Arm. Die Hand entfernte sich überraschender Weise, dafür schlug man mir die Mappe aus der Hand. Ich war versucht, fuchsteufelswild zu werden, zu schreien und zu beleidigen. Vielleicht sogar zuzuschlagen. Die Mappe war heute das Wichtigste.
Das Messer vor meiner Nase hielt mich allerdings vor jeder Handlung ab. Der Anblick machte aus mir eine Statue. Ich wagte kaum noch zu atmen. Die scharfe Klinge war so nah vor meinem Gesicht, dass der Kerl nur schwanken musste, damit er mich berührte.
Man lachte.
„Wer hat denn gerade die Hose voll, hm?"
Hände packten mich grob und sorgten für meine Bewegungsunfähigkeiten. Ich rang mit den Tränen, während der Typ vor mir an meiner Kleidung zupfte und das kalte Metall an meine Wange legte. Was stimmte bloß nicht mit denen? Sie hatten erst ihren Abschluss gemacht. Sollten die sich nicht um eine Arbeitsstelle kümmern oder irgendwas Sinnvolles im Leben machen?
Das hier hätte ich ihnen nicht mal zugetraut.
Ein verdammtes Messer schwebte vor mir.
„Du siehst aus, als hättest du einen wichtigen Termin." Das Böse zeigte sich auf seinem Gesicht. Hinter mir hörte ich den anderen Kerl glucksen.
Ich konnte mich nicht beruhigen, nicht beherrschen oder kontrollieren. Meine Atmung war hektisch. Die Brust hob und senkte sich in einem rasenden Tempo. Das amüsierte die Kerle. Sie hatten mich in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal derart panisch erlebt.
„Hast du?"
„Ja", wisperte ich zitternd.
„Schade. Du wirst wohl nicht hingehen können." Die Klinge schnitt durch meinen Blazer. Sie war derart scharf, dass sie ohne Probleme durch den Stoff kam.
„Wenn du spüren könntest, wie das Weib zittert."
„Brauch ich nicht. Ich kann es sehen." Er hinterließ weitere Schnitte. Der einzige Stoff, der mich ein wenig seriöser hätte aussehen lassen können.
Es dauerte ein, zwei Minuten, dann steckte er das Messer ein und ich wurde losgelassen. Der Kerl vor mir packte mich am Arm, ehe ich auf die Knie fallen konnte und beugte sich so nah vor mein Gesicht, dass ich seinen Atem einatmete. Ihm gefiel sichtlich, was er mit mir gemacht hatte.
„Du kannst froh sein, dass ich es dabei belasse", raunte er bedrohlich. „Das nächste Mal ist dein Körper dran."
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Verloren - Zurück im Leben
RomansaDu bist meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft. - Bei einem schrecklichen Unfall fällt Lenya sieben Jahre in ein Koma und wacht zum Großteil ohne ihre Erinnerungen auf. Nach all den Jahren sind nur ihr Vater und ihr Bruder geblieben...