9 - Akio

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Ich wollte heulen. Ich wollte schreien und toben und irgendwas klein schlagen.

Wie sie mir den Rücken kehrte und sich Schritt für Schritt entfernte, tat weh. Ihr ganzes Auftreten verletzte mich. Ich wollte von ihr umgerannt werden, dass sie sich auf mich warf und wir uns den Kopf anstießen. Ich wollte sie lachen hören und ihre blauen Augen funkeln sehen.

„Du wirst sie verlieren", prophezeite Vince. Ihm war seine Entrüstung anzuhören. Mein Verhalten war verkehrt und alles andere als das, was ich empfand. „Du wirst sie dieses Mal für immer verlieren, Akio."

Ihr Schritte waren klein. Sie wackelte nicht mit der Hüfte oder strafte die Schultern. Sie hielt den Kopf nicht oben und blickte den entgegenkommenden Menschen ins Gesicht. Nichts davon erinnerte an das Mädchen von früher. Aber ihr zierlicher Körper war ihrer. Ihre Verunsicherung zeigte sie unbewusst, indem sie mit den Augen hin und her schaute und ihre Finger knetete.

Lenya nahm den Hut vom Kopf, um ihre hellblonden Haare neu zu legen. Sie trug nichts körperbetontes. Sie zeigte nicht, was sie zu bieten hatte und womit sie mir dauernd den Kopf verdreht hatte. Ihre lange und lockere Kleidung verbarg die schmale Taille, ihren schönen Po und die verführerische Oberweite. Gott, diese Frau hatte nichts mit dem Mädchen gemein, dass ich so sehr liebte.

Mein ganzes Dasein existierte für Lenya. Ich hatte es in all den Jahren nicht geschafft, mich auf eine andere Frau einzulassen. Die letzte Frau war ein Jahr mit mir zusammen gewesen. Wir hatten uns etwas aufbauen wollen, aber sobald es ernst geworden war, hatte ich sie hintergangen. Mir war erst später in den Sinn gekommen, dass ich mit einer anderen geschlafen hatte, um diesem Weg entkommen zu können. Meine Exfreundin dagegen hatte es sofort gewusst. Viel zu oft hatte ich von Lenya und der gemeinsamen Vergangenheit erzählt. Immer wieder hatte sie die Liebe zu Lenya herausgehört und gewusst, dass sie dagegen nicht ankam. Sie hatte gehofft, sie würde mein Herz erreichen können, weshalb sie mit mir zusammenziehen hatte wollen. Sie hatte an eine gemeinsame Zukunft geglaubt, während ich mit meinem Herzen stets bei Lenya geblieben war.

Weil ich Lenya liebte. Weil ich immer nur sie gewollt hatte.

Vince packte mich am Kragen und zerrte mich herum. „Unternimm was und kämpfe oder lass es, aber dann hör auf, um sie zu heulen", knurrte er. „Das ist deine Lenya. Keine Fremde. Beweg deinen Arsch." Dann stieß er mich von sich und ich stolperte zurück.

Ich sah erneut zu Lenya, die gerade einen Ball an jemanden überreichte, bevor sie weiterging. In ein paar Schritten würde sie hinter dem Grünzeug verschwinden. Sie wäre fort. Weg.

Für immer.

Nochmal bekam ich keine Chance.

„Lenya", hauchte ich und setzte einen Fuß vor.

Geh nicht.

Bleib bei mir.

Verlass mich nicht.

Nicht schon wieder.

Bitte.

„Lenya!" Ich rannte, als würde es um mein Leben gehen. Wenn man es genau nahm, tat es das. Sie war mein Leben. Ihretwegen hatte ich die Schulzeit überstanden. Ihretwegen hatte ich Kai und Vince kennengelernt. Ihretwegen hatte ich mich zu diesem Menschen verändert.

„Lenya, warte!"

Menschen drehten sich nach mir herum. Lenya blieb stehen und wendete sich mir zu.

Ich hätte langsamer werden können. Ich hätte vor ihr stehen bleiben können. Ich hätte sie einfach nur ansehen und mit ihr reden können. Ich hätte so vieles machen können.

Verloren - Zurück im LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt