28 - Akio

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Wir hatten Vince und Rafael bis zum Weg begleitet, den sie nach unten gegangen waren. Ich war mit Lenya weiter gelaufen und hatte mich mit ihr unter einen Baum gesetzt. Sie schwieg seither, zitterte und wirkte weggetreten.

Von ihrem Gesicht las ich die verschiedensten Emotionen ab. Mal war es Wut, dann Angst und irgendwann Verzweiflung. Hin und wieder wischte sie sich einzelne Tränen weg. Aber sie redete nicht mit mir. Sie teilte mir nicht mit, was in ihr vorging oder welche Erinnerungen sie zurückbekam, denn das tat sie. Ihr war deutlich anzusehen, dass die Geschichte mit Rafael nicht die einzige Erinnerung gewesen war.

Ich wollte ihr beistehen und ihr die Last abnehmen. Irgendwie wollte ich zu ihr durchdringen, doch momentan schien sie noch nicht bereit zu sein. Also konnte ich sie nur beobachten und über das nachdenken, was vorher geschehen war. Bis jetzt konnte ich mir keinen Reim machen, wieso Lenya plötzlich nicht mehr zu Rafael und Vince laufen wollte. Sie hatte unbedingt stehen bleiben und über uns reden wollen. Zuvor hatte sie von Gefühlen gesprochen, die sie nicht der Vergangenheit oder Gegenwart zuordnen konnte. Lenya hatte überfordert und verwirrt gewirkt. Ihre Erinnerungen schienen ihren Blick zu verzerren, sodass sie zwischen den beiden Zeiten nicht mehr unterscheiden konnte.

Aber wieso war sie stehen geblieben? Wieso hatte sie mich plötzlich umarmt? Wieso hatte sie mich dazu aufgefordert, ihr meine Gefühle zu stehen? Wusste sie es? Hatte sie ihre Naivität verloren und durchschaute meine Intentionen?

Ich hätte es ihr gesagt. Wenn Vince und Rafael nicht gekommen wären, hätte sie mich klein gekriegt. Seit wir geschwommen waren, lagen die Worte auf meiner Zunge und warteten, dass ich sie aussprach. Der Reiz war groß, alles zu vergessen und es einfach zu tun. Sie einfach packen und küssen.

Ich wollte es so verflucht sehr.

Wann konnte ich so weit gehen? Würde es so einen Zeitpunkt überhaupt geben? Was geschah dann mit uns? Was war Lenyas Entscheidung, wenn ich ihr meine Liebe gestand?

Ich hatte eine Scheißangst vor ihrer Reaktion. Bereits während der Schulzeit hatte ich ihr weitaus näherkommen wollen, aber meine Angst hatte mich zurückgehalten. Als sie den Unfall hatte, war die Reue unsagbar groß gewesen, ihr nie meine Gefühle gestanden zu haben. Denn ich hatte mir eingeredet, wenn sie aufwachte, war es zu spät.

Und jetzt hatte sie es aus mir rauskitzeln wollen.

Ob es eine Chance gab?

„Wusstest du, dass die drei Mädchen in unserer Klasse ..." Lenya verzog das Gesicht. Sie war schrecklich blass. Ihr ging es nicht gut.

„Bevor wir Freunde wurden, habe ich mitbekommen, wie du drei Mädchen wütend angesehen hast. Ich würde nicht sagen, dass ich es wusste, aber man hat gesehen, dass zwischen euch was vorgefallen ist."

Sie gab einen Laut von sich und nutzte den Verband am Arm, um den Schweiß aus ihrem Gesicht zu wischen. Ihre Augen waren auf mich gerichtet. Nicht auf mein Gesicht, sie sah weiter nach unten. Vielleicht lag ich falsch. Vielleicht war es nicht ihr Gedanke. Vielleicht würde sie mich schräg ansehen.

Aber ich streckte meine Beine aus und öffnete die Arme.

Für den Bruchteil einer Sekunde kehrte Freude in ihr Gesicht zurück. Nur flüchtig zeigte sich ein angedeutetes Lächeln. Sie krabbelte gleich zu mir und setzte sich zwischen meine Beine. Mit ihrem Rücken lehnte sie an meiner Brust. Meine Arme legte ich um ihren schmalen Körper, umfasste ihre Hände und drückte sie an mich. Lenya befreite eine ihrer Hände, legte sie stattdessen auf meinen Arm. Sie verlor kein Wort über diese überaus intime Umarmung oder dass mein Arm über ihren Brüsten lag.

Du bringst mich noch ins Grab.

Es dauerte nicht lange, bis ihre Anspannung von ihren Schultern fiel und das Zittern aufhörte. Ihre Atmung wurde ruhiger. Manchmal bewegte sie ihren Kopf, weil sie andere Leute hinter den Autos sah.

Verloren - Zurück im LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt