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Akio hatte mich tatsächlich zu dem Haus gebracht, auf dem Vince arbeitete und Dachpfannen verlegte. Wir standen auf der anderen Straßenseite. Seit wir hier waren, hatten wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Ich sah stattdessen unentwegt zu Vince hinauf, der mit nacktem Oberkörper arbeitete. Selbst hier unten war ihm der Schweiß anzusehen.

Noch hatte er uns nicht bemerkt.

Ich gestand mir ein, dass er gut gebaut war und ich die Frauen verstand, die hier vorbei gingen und zu ihm hinaufschauten. Bei jeder Bewegung regten sich seine Muskeln. Die vielen Tattoos machten neugierig. Man wollte sie sich ansehen und erfahren, welche Geschichten dahinter steckten. Ob es bei unserem gemeinsamen Tattoo eine richtige Geschichte gab? Er hatte nur kurz davon erzählt, war aber nicht ausführlicher geworden.

Während ich Vince beobachtete, fielen mir die Worte meiner Mutter ein.

„Sag mal, warum sind wir alle miteinander befreundet, wenn wir so unterschiedlich sind?", fragte ich, obwohl ich die Antwort ahnte. Meine Freundschaft mit Akio hatte wegen Mobbing begonnen. Wenn es nicht die Erinnerung an den Unfall war, drängte sich dieses Wort in mein Bewusstsein und ließ mich an nichts anderes denken.

„Du bist das Bindeglied."

„Ich?"

Akio nickte. „Hat dir Rafael erzählt, dass du dich damals verändert hast?"

„Ja."

„Ich weiß nicht, was dich zu dieser Entscheidung getrieben hat oder woher du den Mut und die Kraft hergenommen hast, diesen Schritt zu gehen, aber die Veränderung hat erst mich, dann Vince und schließlich Kai an dich gebunden. Du bist immer etwas sehr Besonderes für uns gewesen." Er schweifte mit den Augen zu mir. „Das hat sich nicht geändert."

Auf eine Antwort wartete er lange. Ich sah ihn einfach nur an und überlegte, wie ich das Thema aufgreifen konnte. Er hätte vor meinem Vater mit dem Mobbing rausrücken können, aber er hatte geschwiegen. Seit er von der Arbeit zu mir gefahren war und mich abgeholt hatte, hätte er mit mir darüber reden können. Aus irgendeinem Grund schnitt er das Thema Mobbing nicht an.

„Wie habe ich Vince und Kai kennengelernt? Sie waren nicht in unserer Klasse."

„Stimmt, aber man begegnet sich auf den Fluren."

In mir begann etwas zu brodeln. Ich wurde sauer und wollte ihn anschreien. Warum sprach er es nicht aus? Warum mied er das Thema? Was war damals geschehen? Was hatte ich gemacht?

Ich wollte doch bloß erfahren, wer ich gewesen und wie ich aufgetreten war.

Die Lippen presste ich aufeinander, um nichts Falsches zu sagen, und sah wieder zu Vince hoch. Nicht einmal mein Bruder hatte je von Mobbing gesprochen. Es war ein Thema, das in den letzten Monaten nicht aufgekommen war, obwohl es einige Momente dafür gegeben hatte. Oder Rafe wusste tatsächlich nichts.

Ein paar Minuten später kletterte Vince am Gerüst herunter und packte mit seinen Kollegen zusammen. Für eine Sekunde stellte ich mir vor, wie ich auf ihn zuging und ihn ansprach, ihn flirtend anlächelte und er darauf einging. Der spontane Gedanke war genauso schnell fort wie er gekommen war, dennoch wollte ich im Erdboden versunken. Meine Erinnerung an mein Traum Ich, der Charakter dieses Mädchen, hatte etwas in mir hinterlassen. Dieses Ich hätte die Vorstellung umgesetzt und mit Vince gespielt. Etwas in mir versicherte, dass Vince darauf eingegangen wäre. Dass es nicht das erste Mal gewesen wäre.

Aber ich war nicht das Traum Ich.

Ich wagte mich nicht einmal nach Vince zu rufen.

Dann würden die anderen Männer ihre Augen auf meinen Körper legen. Sie würden mein eigenartiges Aussehen kommentieren und mich fragen, was es damit auf sich hat.

Verloren - Zurück im LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt