10 - Akio

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2004

Lenya sah zu einer Gruppe Schüler hinüber und runzelte die Stirn. Gestern hatten wir die gleichen Jungen beobachtet, waren aber durch die Schulglocke abgehalten worden. Diese Jungen hinterließen kein gutes Gefühl. Das rief bei mir keine guten Erinnerungen hervor und ich wusste, Lenya erging es nicht anders. Bei ihr waren es Mädchen gewesen, bis Lenya sich aus diesem Teufelskreis befreit hatte.

Erst als die Jungen sich bewegten, sahen wir den anderen Schüler an die Hausmauer gedrängt stehen. Er war groß, aber seine Haltung verriet seine Rolle als Opfer. Mit hängenden Schultern drückte er sich an die Wand und starrte unter sich. Die Jungen redeten auf ihn ein, dann wurde gelacht. Das Opfer bewegte seine Lippen, worauf er einen Schlag als Antwort erhielt.

Lenya und ich schnappten nach Luft. Das war eine andere Situation als bisher. Eine Schlägerei zu beobachten, war weitaus schlimmer als verbales Mobbing auszuüben.

Bei einem zweiten Schlag sackte der Junge zusammen und die anderen lachten. Ich sah mich nach Vince um, der die Situation sofort beenden konnte. Sein Erscheinungsbild reichte für sowas aus. Niemand legte sich freiwillig mit ihm an.

Aber heute brauchte er für seine Kippe gefühlt länger.

Lenya war anderer Meinung und rannte los. Dieser Dummkopf lief zu der Gruppe, als man gegen den Jungen trat. Ich hasste ihre impulsive Art manchmal. Sie brachte sich damit in ungemütliche Situationen. Heute sogar in eine gefährliche.

Ich stieß einen Fluch aus, sah nochmal nach Vince, doch der war sonst wo. Mir blieb nichts anderes übrig, als meiner Freundin nachzulaufen und sie vor Gewalt zu beschützen. Irgendwie.

Lenya schubste den größten Jungen vom Opfer weg und stellte sich dazwischen.

„Ihr seid so lächerlich! Wie könnt ihr alle auf einen gehen?"

„Verpiss dich, dann vergessen wir, dass du dich eingemischt hast."

„Keine Chance. Ihr lasst ihn in Ruhe."

Ich stellte mich an ihre Seite, was keinen der sieben Jungen beeindruckte. Sie würden mit uns ebenso fertig werden, wie mit dem Opfer hinter uns. Das würde schnell eskalieren.

Gott, ich hatte eine Scheißangst.

Jemand stöhnte genervt. „Kennt ihr die Schwuchtel? Nein? Dann geht endlich."

„Nein", entgegnete Lenya mutiger als sie war. Sie war eindeutig zu waghalsig und lebensmüde. Das hatte sie mir mit Vince bewiesen, jetzt diese Situation.

Von der Gruppe umzingelt zu sein, weckte unschöne Erinnerungen. Es war nie dermaßen eskaliert wie hier, aber herablassend behandelt zu werden, kannte ich. Nur zu häufig hatte ich die Schule gedemütigt verlassen, mich einsam und verloren gefühlt. Niemand hatte mit dem Asiaten etwas anfangen können. Ich war zu still, zu einsiedlerisch und wenig umgänglich.

„Was stimmt nicht mit denen?"

„Wenn ihr eine Abreibung wollt, bleibt ruhig."

„Ihr könntet uns euer Geld geben, vielleicht lassen wir euch dann in Ruhe."

„Wir sollten denen ein paar Manieren beibringen."

„Echt mal. Seit wann platzt man in eine Unterhaltung?"

Einer von ihnen knackte mit den Fingerknöcheln, was Lenya zwar nicht von der Stelle bewegte, aber sie wich mit dem Oberkörper zurück. Natürlich hatte sie Angst. Wir machten uns beide gleich in die Hose.

„Ihr wollt nicht ernsthaft meine Freundin anfassen."

Ich dankte Gott.

Neben mir hörte ich Lenya erleichtert ausatmen.

„Wo zum Teufel hast du gesteckt?", blaffte ich. Er sollte nicht meinen, ich hätte Angst. Vor ihm wollte ich nicht schwach sein, auch wenn ich es war. Das konnte ich mir immerhin selbst eingestehen.

„Ist das wichtig?" Vince blickte die Jungen finster an. Ich hatte Lenya dauernd vor ihm gewarnt und sie gebeten, sich nicht auf ihn einzulassen. Es war nicht zu fassen, dass er nun ein Freund und ich dafür verantwortlich war.

„Lasst woanders hingehen", meinte einer der Jungen.

„Eine sehr gute Idee", pflichtete Vince ihm bei und kam einen Schritt näher.

Die Gruppe ging tatsächlich, was auch mich nun erleichtert ausatmen ließ.

Lenya wirbelte direkt zu dem Opfer herum und ging in die Hocke. „Die sind weg und sie werden dich nicht nochmal anfassen", sagte sie und berührte den Jungen an der Schulter. „Geht es? Sollen wir dich irgendwo hinbringen?"

Der Junge hob den Blick und sah Lenya in das Gesicht. Er hatte geheult, trug ein unschönes Veilchen im Gesicht. „Es ... Es geht schon", behauptete er.

„Wirklich? Bei mir nicht." Und dann ließ Lenya sich auf den Po fallen und begann zu weinen, was ihren Vordermann sichtbar schockierte. „Ich hab gedacht, gleich ist's vorbei mit mir. Ich hatte eine Scheißangst."

„Du bist der größte Schwachkopf, der mir je begegnet ist", meinte Vince lässig, während ich mich zu Lenya kniete und sie in die Arme schloss.

„Ich kann doch nicht einfach zusehen! Die hätten ihm doch sonst was angetan!"

„Und dann willst du dich lieber verprügeln lassen?"

„Ich weiß doch nicht vorher, dass die auch Mädchen schlagen!"

„Das hat man denen doch direkt angesehen."

„Halt doch die Fresse! Ich wollte bloß helfen!"

„Danke", sagte der Junge zögernd, was Lenya unter Tränen ein Lächeln entlockte. Sie stellte uns und sich prompt vor. „Ich bin Kai."

Damit war die Gruppe der Außenseiter gewachsen. Kai gehörte sofort zu uns.

Verloren - Zurück im LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt