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Ich hätte in dreißig Minuten die Hose anziehen können. Ich hätte meine Sachen zusammenpacken können, um nach meinem Vorhaben nach Hause zu kommen. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass der Besuch am Strand nicht schön enden würde. Rafe war zu aufgebracht und Vince' zurückgenommenes Versprechen war besorgniserregend.

Seit dreißig Minuten zerbrach ich mir den Kopf, wie ich die Sache angehen sollte. In meinen Erinnerungen hatte ich gerade gestanden. Ich hatte eine große Klappe besessen. Vince hatte ich in seine Schranken verwiesen. Damals war mir das sehr viel leichter gefallen, während ich nun verzweifelt überlegte, ob ich den Mut besaß, die Männer zu stoppen.

Noch länger warten konnte ich nicht. Ich kam nicht zur Ruhe, solange Vince und Rafe weg waren und ich genau wusste, dass sie sich die Köpfe einschlugen.

Ich stand auf und blickte zu Akio und Kai. Sie gehörten dazu. Wir waren zu fünft gewesen. Unsere Gruppe musste die Dinge gemeinsam klären. Rafe musste ihnen ebenfalls die Meinung sagen und sich anhören, was in ihnen vorgegangen war.

„Kai, Akio, kommt ihr mit?"

„Wohin?"

„Zu Rafe und Vince."

„Was?" Kai richtete sich überrascht auf. „Die wollen nicht, dass wir uns einmischen."

„Ich weiß nicht, wie die letzten Jahre für euch waren. Ich weiß nicht, ob ihr neue Freunde gefunden habt. Aber ich weiß, dass wir vor dem Unfall nur uns fünf hatten. Es gab niemand anderen."

„Aber es ist nicht mehr wie früher", meinte Kai unüberlegt. Den Satz hatte ich mehrmals benutzt. Ich hatte den Kontakt abbrechen wollen, weil ich der gleichen Meinung war. Es war nicht fair, dass er es aussprechen durfte, während die Männer mir eine Predigt gehalten hatten.

„Versteh mich nicht falsch, Lenya. Ich bin gerne mit euch zusammen und ich bin froh, dass du zurück bist, aber meine Familie steht über euch. Ich werde mich nicht in eine Schlägerei einmischen und mich anschließend mit Verletzungen vor meine Kinder stellen."

Deshalb konnte es nicht mehr wie früher werden. Kai war mit Vince und Akio befreundet, aber nicht wie früher. Seine Vaterrolle nahm ihn ein. Ich musste akzeptieren, dass er zwar der Sonnenschein von damals war, allerdings nicht länger für unsere Gruppe. Wir würden uns hin und wieder verabreden, nicht mehr jeden Tag zusammenhängen.

Es bewies, dass ich Recht besaß. Ich war Jahre hinter ihnen entfernt und konnte nicht aufholen. Nie wieder würden wir lachend und rumalbernd zu fünft in einem Loch sitzen. Nicht mehr in dem Ausmaß, das ich in meinen Erinnerungen sah.

„Das verstehe ich", versicherte ich Kai, verlor dennoch einzelne Tränen. Es tat weh, weil ich in der Vergangenheit festhing. „Ich hänge acht Jahre zurück. Irgendwann wird es nicht mehr wehtun", fügte ich erklärend hinzu.

Irgendwann würde ich das Jetzt akzeptieren können und darin leben.

„Entschuldigt, dass ich euch gefragt habe. Vergesst es einfach. Ich gehe ihnen hinterher, weil es um meinen Bruder geht", sagte ich kurz darauf und wirbelte herum. Die Angst vor anderen Blicken verdrängte ich und rief mir permanent in Erinnerung, dass ich nach Vince und Rafe sehen musste. Ich wollte sicher gehen, dass sie nicht verletzt waren.

Auf nackten Sohlen rannte ich vom Strand zurück zum Parkplatz, der wenige Minuten entfernt war. Nur in einer Bikinihose und einem Top. Ich war langsam, weil mein Körper nicht in Form war. Selbst nach so vielen Monaten machte sich der lange Schlaf bemerkbar.

Tränen brannten in meinen Augen. Neben meiner Sorge um die beiden Männer, saß der Schmerz tief, dass ich Kai verloren hatte. Er war nicht mehr der Junge von der Schule, der geschlagen worden war und geweint hatte. Den ich gerettet hatte. Meine Erinnerungen verzerrten den Blick auf die Realität das hatte meine Psychologin ebenfalls gesagt. Es fühlte sich real an, als hätte ich all die Erinnerungen erst vor kurzem erlebt. Ich steckte irgendwo in der Vergangenheit und fand keinen Weg, um in die Gegenwart zurückzukehren.

Verloren - Zurück im LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt