Ich brauchte dringend eine perfekte Ausrede, damit Jul nichts von meiner lebensgefährliche Aktion mitbekam. Und ich musste kommen. Wenn ich nicht da wäre, hieße es, dass Kiria, die „Gelbjacke", Cleo töten und weiter Leute bedrohen würde, welchen Grund auch immer sie oder ihr geheimnisvoller Meister dafür haben könnten. Es machte mir immer noch Angst, dass sie wohl als Spionin in der Schule aktiv war und so viel mehr war, als es so manche glaubten. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich auch diese Geschichte mit Mr. Redsea, der sie angeblich in einem anderen Land gefunden hatte, nur so herumerzählt, damit keiner Fragen stellte. Und in Wirklichkeit ist sie ganz anders an die Reptil School gekommen.
„Ach übrigens", setzte mein Freund an. „Morgen früh muss ich für ein paar Stunden in den Zoo, für dieses Wochenende konnte ich mir den Sonntag nicht freinehmen. Also werde ich dich schon nach dem Frühstück zur Schule fahren. Ist das okay für dich?"
Das war sie. Die Gelegenheit. Leise begann mein Gehirn, zu rattern. „Ach, mach dir nicht die Mühe, wenn du nichts dagegen hast, kannst du mich auch jetzt sofort zur Reptil School fahren!"
„Wenn du darauf bestehst." Julian zuckte mit den Schultern. „Ich versteh nur die plötzliche Eile nicht." Mir wurde heiß.
„Naja, dann schaff ich es vielleicht noch, mit Cleo ins Riff zu schwimmen."
„Um diese Uhrzeit?"
Heftig nickte ich.
Nach schnellem Zusammenpacken meiner Sachen zurück in unserer Wohnung fuhr Jul mich dann die lange, nächtliche Straße zum Internat für Coldbloods entlang.
„Tut mir noch mal leid, dass du jetzt schon wieder hierher musst", entschuldigte Jul sich das wahrscheinlich tausendste Mal. Ich machte eine ablehnende Geste. „Nicht so schlimm, glaub mir." Hoffentlich war Cleo noch da!
Ich packte meinen Rucksack und sprang aus dem Wagen, rief eilig „Tschüss!" und rannte dann in Richtung der dunkelrot gestrichenen Hütte 4, dort wohnten Meggie und Cleo.
Energisch hämmerte ich gegen die Tür. „Cleo! Cleo, mach auf!", rief ich so leise wie es ging. Die Tür knarzte und Meggie stand im Sternchen-Schlafanzug vor mir und rieb sich die Augen. Ich hatte sie wohl geweckt. Ups.
Erst geschah gar nichts, dann weiteten sich ihre Augen und plötzlich war die rundliche, oft müde Tannenzapfenechsen-Wandlerin hellwach und ihr bräunliches Gesicht wurde eine Spur bleicher. Sie hatte also immer noch Angst vor mir.
„A-ach, d-du bist es, K-keon", stotterte sie. Ich sah, wie Cleo mit einer Zahnbürste im Mund aus dem Bad trat. „Oh, da bischt du ja!" Ihren Mund dekorierte Schaum.
„Dasch ischt für misch, kannscht wieder schlafen gehen."
Sie verschwand nochmal kurz, um ihren Mund auszuspülen, ich hörte den Wasserhahn rauschen. Meggie verzog sich möglichst flott, Cleo allerdings war bereits in lockerer Sportkleidung auf dem Kiesweg.
„Komm. Wenn das der See ist, von dem ich denke, dass er es ist, kenn ich 'ne krasse Abkürzung!"
Schweigend folgte ich ihr, wir verließen das Schulgelände und liefen eine Zeit lang einen kleinen Weg an der Straße entlang. Junge Eukalyptusbäume und Grasbäume schmückten unseren Weg, hier und da wuchs eine Akazie. Ich hörte nachtaktive Insekten summen und hoffte insgeheim darauf, keiner Giftspinne über den Weg zu laufen, deren Namen ich bereits wieder vergessen hatte. Die sollte es sogar hier um und in Sydney geben. Bei dem Gedanken daran wurde mir prompt noch ein wenig übler.
Später bog sie ins Gebüsch ab und führte mich zielsicher und höchst gut gelaunt durch Geäst und über Trampelpfade. Ich fragte meine Freundin besser nicht, woher sie diesen Weg kannte. Ich war eher damit beschäftigt, an meiner Intelligenz zu zweifeln, da ich ganz vergessen hatte, meinen Rucksack mit meinen Sachen in der Schule zu lassen.
Zwar konnte ich nicht begreifen, warum Cleo so gut drauf war, aber vielleicht freute sie sich einfach nur, zu kämpfen. Nur, warum dudelte sie leise unaufhörlich „Endlich mach ich sie fertig, endlich tu ich das!"?
Einfach nicht fragen, redete mein inneres Stimmchen mir ein. Einfach nicht fragen.
Laut Smartphone war es elf Uhr nachts, als wir an einer ziemlich versteckten, durch Pflanzen getarnten, winzigen Lichtung am See ankamen. Das klare Wasser plätscherte leise und glitzerte im Mondschein.
Jetzt erst begann mir mein Gewissen zu beichten, wie dumm es war, was wir vorhatten. Wie dumm, unvorbereitet und verantwortungslos waren wir nur, wie wenig schätzten wir den Fakt, am Leben zu sein? Warum nur riskierten wir es? Warum machte ich mir ausgerechnet jetzt Gedanken darüber? Ich war seit so kurzem erst Teil der Menschenwelt, meine wilden, kämpferischen Instinkte arbeiteten statt meinem Gehirn, und das immer, wenn sie es nicht sollten, so wie heute.
Oh, wie Recht dieses Gewissen hatte.
„Ich glaube, du legst dich besser auf die Lauer, ich will nicht, dass dir was schlimmes passiert", riet ich Cleo.
„Wie rührend, könnte es sein, dass du dir Sorgen um mich machst?" Man konnte die Ironie in ihrer Stimme schon fast spüren, trotzdem verwandelte sie sich so flüssig wie immer und kroch ins klare Wasser.
Wärst du so nett, meine Sachen zu verstauen?
Stumm und den Kopf schüttelnd räumte ich ihre Klamotten und meinen Rucksack in einen dichten grünen Busch. Nervös pendelte ich von rechts nach links und ging im Kopf alles durch, was ich je über Kampf und Selbstverteidigung gelernt hatte. Doch dazwischen kam immer ein und derselbe Gedanke: Wie dumm waren wir nur, wie dumm.
Meine Sinne waren so angespannt wie meine Muskeln, falls das möglich war. Meine roten Augen durchsuchten meine Umgebung, mein bescheuerter Instinkt, dem ich das alles wahrscheinlich zu verdanken hatte, war auf alles bereit.
Währenddessen beobachtete Cleo mich seelenruhig aus dem Wasser. Ihre Nerven hätte ich gerne.
Die größten Probleme beginnen ja bekanntlich klein und langsam. Dieses Problem fing lang an. Lang und schuppig, mit einer gespaltenen Zunge. Selbst wenn Carpet Snakes ungiftig sind, wenn zehn dieser Vieher auf einen zuschlängeln. Moment. Wie brachte Medusa verschiedenste Schlangenarten dazu, ihr zu gehorchen?
Wie bezaubernd, ertönte eine ätzende Stimme in meinem Kopf, schirm deine Gedanken besser ab. Und das mit den Schlangen hat mit Genmanipulation zu tun. Mein Boss könnte dir mehr dazu erzählen, aber leider wirst du sowohl ihn als auch sonst noch jemanden sehen. Wenn ich mit dir fertig bin, werde ich nicht mehr wie abgenutzte Schlangenhaut von ihm behandelt.
Dann erschien sie. Hinter einem Baum kroch Kiria hervor, teilverwandelt, statt Beinen hatte sie einen langen, glatten, gemusterten Schwanz. Mit zusätzlicher Hilfe ihrer Hände kam sie beängstigend schnell auf die Lichtung, wieder diese komische, antike Rüstung mit dem Dolch an ihrem Oberkörper. Die Maske verdeckte ihr Gesicht.
„Ich würde ohne Umschweife sofort mit dem Abschlachten beginnen, was meinst du?"
Ohne auf meine Antwort zu warten richtete sie sich auf und schmiss sich auf mich. Unvorbereitet auf einen solchen Beginn wurde ich prompt auf die feuchte Erde gedrückt. Wo blieb bitte Cleo? Schon wieder hatte sie meine Gedanken gelesen.
„Reizend, allein schaffst du es wohl nicht, ernsthaft mit mir auszukommen." Sie klopfte mit dem Schwanzende mehrmals auf den Boden, worauf die Schlangen ausschwärmten, um meine Freundin zu suchen. Wie gern hätte ich ihr jetzt wehgetan, doch ich lag immer noch unter meiner Feindin. „Nun zu dir." Langsam wickelte Kiria sich um meinen Bauch, leise und geübt.
Ohne lange zu zögern zog ich ihr mit einer schlagartig weiß gewordenen Pranke über das falsche Gesicht und riss Medusa so die Maske vom Kopf. Irritiert schüttelte Kiria sich.
Ich entschied, meine Zähne auch zu verwandeln, und dank meiner aufsteigenden Wut fiel mir die Verwandlung unglaublich leicht und schnell. Mit aller Kraft stemmte ich mich auf und klappte mein Krokodilgebiss zu. Erschrocken wich mein Gegenüber zurück und lockerte seinen Griff für einen Sekundenbruchteil. Das reichte mir aber auch. Mit einer schnellen, womöglich schon fast flüssigen Bewegung flutschte ich aus dem Schlangenring und packte Kiria mit der unverwandelten Hand an der Kehle.
Doch ich hatte den Dolch in ihrem Gürtel vergessen, den sie nun aus der Schnalle fischte und es zumindest schaffte, mich damit am Handgelenk zu streifen. Die Wunde war nicht sehr tief oder groß, aber sie brannte und ich konnte mir den Aufschrei nicht verkneifen. Jetzt wurde es richtig ernst!
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Coldbloods - Die Wandlerschule
Fiksi PenggemarViele fürchten Krokodile. Und Keon, der ist auch noch ein Albino. Nur kurze Zeit ist der Wandler in der Welt der Menschen. Nun, wo er auf eine besondere Schule für Gleichartige gehen soll, erwartet ihn schon in den ersten Wochen so einiges. Und so...