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Wer schnell verurteilt, der schnell verliert...

Solveig hatte es sich am kleinen Bachlauf bei den Schafen gemütlich gemacht. Ein Stück Zirbel in der einen Hand, das Messer, mit dem sie daran schnitzte in der anderen, saß sie auf einem kleinen Fels. Thora lag zu ihren Füßen, den Kopf auf die Pfoten gelegt. Ihr leises Schnarchen deutete darauf hin, dass die junge Schäferhündin schlief.

Seitlich von ihnen ging die Sonne unter und warf ihre rotgoldenen Strahlen durch die Berggipfel auf die saftig grüne Wiese und die wolligen Schafe, welche friedlich auf dem Hang grasten. Das klare Bergwasser plätscherte sanft vor sich hin. Die Luft frischte auf, weshalb Solveig die Wollweste fester um sich zog.

Behutsam ließ sie die kleine Klinge durch das weiche Holz gleiten. Stück für Stück gab Solveig ihm Form. Nach einer Weile hielt sie es mit etwas Abstand vor ihre Augen.

Ein kleiner Körper hatte sich gebildet, abgerundet von zwei Flügeln, die noch nicht ganz ausgearbeitet waren. Dennoch war sofort klar, um welch ein Wesen es sich hier handelte. Solveig hatte einen Schmetterling geschnitzt und sie hatte keine Ahnung, wie das geschehen war. Es war nicht geplant gewesen, ihre Finger hatten sich einfach eigenständig gemacht.

»Der sieht wirklich schön aus.« Die Stimme ließ Solveig abrupt aufblicken. Thora regte sich, stieß ein leises Grummeln aus, blieb aber liegen. Sie beide hatten wohl nicht bemerkt, wie sich ihnen jemand genähert hatte. »Ist das ein Schmetterling?«

In einigem Abstand zu ihr erhob sich die schlanke Gestalt des kleinen Blōdraci-Mädchens, dem Solveig auf der Suche nach Yvo am Morgen im Wald begegnet war, und das sie zu ihrem Vater zurückgebracht hatte. Ein leichter Luftzug wirbelte weißes Haar und graubraunen Pelz auf. Hellgrüne Augen leuchteten hinter hellen Wimpern hervor.

»H-hallo«, entfuhr es Solveig zaghaft, während sich ihr Körper ein wenig versteifte. Die Blōdraci mochte ihr geholfen haben, dennoch spukten ihr all die Schauermärchen der Dorfbewohner, dieses Volk betreffend, lebhaft durch den Kopf. Riefen Solveig in Erinnerung, dass sie sich in Acht nehmen und Vorsicht walten lassen sollte. »W-was machst du hier?«

Das andere Mädchen gab keine Antwort, betrachtete Solveig weiterhin schweigend und derart intensiv, dass sie schauderte. Gleichsam wohlige Wärme wie eisige Kälte durchströmten ihre Glieder und vermischten sich zu einem nicht endendwollenden Strudel. Schließlich deutete ihr Gegenüber auf die Schnitzerei in Solveigs Hand.

»Darf ich?«

Solveig schluckte. Mit einem schnellen Blick über die Schulter versicherte sie sich, dass ihr Vater, der das Feuer in der Mulde entzündet hatte und das Abendessen vorbereitete, wirklich nicht in Sichtweite war.

Sowohl die Hand, in der sie das Messer hielt, als auch die, in welcher der Schmetterling aus weicher Zirbel lag, zitterte ein wenig, als sie letztere der Blōdraci entgegenstreckte. Thora hob den Kopf und betrachtete die Andere mit aufmerksam aufgestellten Ohren.

Diese kam langsam näher, als wüsste sie, dass jede zu schnelle Bewegung Solveig oder die Hündin verschrecken könnte, und nahm vorsichtig die sorgfältige Schnitzarbeit, um sie in der eigenen Hand von der einen auf die andere Seite zu drehen. Dünne Finger strichen über die Maserung der Flügel, welche noch recht grob und faserig waren.

»Ich ... habe ihn heute im Wald gesehen, bevor ich dich traf«, erklärte Solveig, ohne zu wissen, was genau sie dazu verleitete rechtfertigen zu wollen, welch Dinge sie aus welchem Grund anfertigte. Noch dazu vor einer ihr gänzlich Unbekannten. »Ich ... Ich weiß selbst nicht, was mich dazu brachte ihn zu schnitzen.«

Das Blōdraci-Mädchen dachte nach. Solveig ahnte dies, wenngleich nichts an dessen Ausdruck darauf hinwies. Dann stahl sich ein kleines Lächeln auf die Mundwinkel ihres Gegenüber.

Flügelschlag eines SchmetterlingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt