-7-

57 6 151
                                    

Die Hoffnung einer Freundin

»Wohin des Weges?«

Die Stimme, wenngleich durchaus bekannt, ließ Solveig leicht zusammenzucken. Dann breitete sich ein Grinsen auf ihren Lippen aus und sie hob den Blick, der daraufhin dem Baldwins begegnete. Der junge Mann hockte auf dem Dach einer der niedrigen Steinhütten und hatte sich mit einer der behandschuhten Hände auf der Kante abgestützt.

»Solltest du dich weiterhin bei Glätte auf Dächern herumtreiben, läufst du noch Gefahr dir eines Tages die Knochen zu brechen!«, meinte sie halb zum Spaß wie auch im Ernst.

Solveig gedachte dem Frost der vergangenen Nächte, der auch die Wege Grüntals gefror und die Dorfbewohner schon jetzt dazu veranlasste sie mit Sand und Kies zu bestreuen.

Baldwins Augen funkelten amüsiert. »Das Risiko gehe ich liebend gerne ein.«

Es knirschte leise, während er sich an der Kante vom Hüttendach hinabhangelte und auf festen Füßen vor Solveig landete.

»Nun«, sagte er munter und rückte, sich zu seiner vollen Größe aufrichtend, seine mit grauem Pelz ausgekleidete Ledermütze auf dem dunkelblonden Schopf zurecht. Ein paar verfilzte Haarsträhnen, denen seines Bartes gleichend, hingen ihm in die Stirn. »Um auf meine vorherige Frage zurückzukommen: Wohin des Weges?«

»Ich gedenke Frowin einen Besuch abzustatten«, erwiderte Solveig und holte den Sack hervor, den sie über der rechten Schulter trug.

Darin hatten sie und ihr Vater einen großen, gefüllten Wasserschlauch sowie einige in getrocknete Blätter gewickelte Leckereien verstaut. Ein paar Streifen geräuchertes Rinderfleisch, einen frischen Laib Brot, etwas Käse und drei Stränge Trauben.

»Natürlich«, murmelte Baldwin, »ich vergaß schon fast, dass du ihm regelmäßig Vorräte bringst, damit er auf seine alten Tage nicht mehr allzu häufig vor die Tür muss.« Er warf einen Blick zum Himmel, der sich seit den frühen Morgenstunden mit grauen Wolken zuzog. Es versprach in den nächsten Tagen regnerisch zu werden. »Erst recht bei diesem Wetter.«

Solveig nickte und warf sich den gefüllten Sack wieder über die Schulter. Die Miene ihres Freundes wurde mit einem Mal ernster.

»Vergiss niemals, welch ein guter Mensch du bist.«

»Was meinst du?«, erwiderte Solveig, den jungen Mann mit leicht zur Seite geneigtem Kopf sowie hochgezogener Augenbraue musternd. »Entspricht es nicht unseren Gepflogenheiten uns um die Alten wie Schwachen zu kümmern?« Sie seufzte schwer und ihre Mundwinkel hoben sich erneut zu einem milden Lächeln. »Aber natürlich, dich kümmern unsere Regeln ja ohnehin nicht.«

Sollten ihre Worte Baldwin verletzt haben, so ließ er sich dies nicht anmerken. Er grinste nur beschwingt vor sich hin, derweil sie gemeinsam weitergingen.

Hin und wieder begegneten sie anderen Dorfbewohnern, die ihren Alltagspflichten nachgingen: Eine Frau hängte Wäsche über ein dickes Seil, das sie zwischen zwei Hütten aufgespannt hatte, während andere in einem großen Waschzuber rührten. Eine Gruppe kräftiger Arbeiter querten, bewaffnet mit schartigen Äxten und begleitet von einem ochsengezogenen Karren, ihren Weg, scheinbar unterwegs zu einem der näheren Wäldchen, wo sie Holz für den Winter schlagen würden. Zwei Männer kehrten von der Tōrga zurück, die ihren Lauf nicht weitab hatte und das Dorf seit jeher mit Wasser versorgte, sie trugen ein Bündel große Fische bei sich. Anderswo liefen Kinder spielend durch die Gassen.

»Es ist nicht so, dass unsere Regeln mich nicht kümmern«, widersprach Baldwin nach einer Weile Solveigs Aussage. »Ich genieße nur viel zu sehr meine Freiheit, als dass ich mich durch eine jede einschränken lassen würde.«

Flügelschlag eines SchmetterlingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt