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Jonas

Ich mustere ihn von der Seite. Er trägt eine grüne Jacke zu einem roten Shirt und blauen Jeans. Er hat wirklich den schrecklichsten Kleidungsstil, den die Menscheit je gesehen hat, aber ich sage es ihm nicht. Ich schweige, während wir unseren Weg zum Restaurant antreten.

Zu meiner Überraschung schweigt er ebenfalls und scheint etwas in Gedanken vertieft zu sein. Er hat vorhin einen Anruf bekommen, ich habe nicht gelauscht, aber die Wände sind dünn. Ich habe keine Ahnung, über was er genau mit dieser Person besprochen hat, aber man hat eindeutig gemerkt, wie seine Stimmung nach jeder vergangenen Minute tiefer gesunken ist. Sein Gesichtsausdruck ist neutral, was für Ives' Verhältnisse ein Zeichen für seine miese Laune ist.

Ich seufe innerlich und gebe mir einen Ruck, um etwas zu sagen, doch ich stoppe mich noch, bevor ich überhaupt den Mund geöffnet habe.

Ich habe mich heute Nacht in Ives' Bett gelegt, kreist es mir seit heute morgen durch den Kopf. Der Gedankenkreisel macht keine Pause, als würde ihn jemand immer wieder drehen. Er prallt an den Wänden meines Gehirns ab, wird schneller und lauter. Ich war einsam und habe es mir im frischgewaschenen Bett eines Sexfanatikers mit Bindungsängsten und viel zu vielen egoistischen Zügen bequem gemacht.

Ich kann immer noch nicht ganz verstehen, wie ich auf diese Idee gekommen bin. Okay, nein. Ich weiß es genau. Ich habe ihm dabei zugesehen, wie er mein Zimmer verlassen hat. Er war total übermüdet und erschöpft, da er sich seit Stunden, um mich kümmert und dabei nur wenig Schlaf abbekommen hat. Ich konnte ihm ansehen, dass es ihm wirklich leid tut, dass er an meinem Unfall beteiligt war. Nicht, weil er jetzt die ganze Arbeit hat, sondern weil ich mich dabei unschön verletzt habe.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte gewartet, bis er schlief, nur weil ich Mitleid mit ihm hatte. Es war schließlich mehr als das. Ich hatte kein Mitleid mit ihm. Es war mehr ein Schwächeanfall. Ives und ich verstehen uns einfach nicht und das werden wir auch nie so wirklich, doch gestern hat sich unsere zwischenmenschliche Beziehung sogar ein wenig wie Freundschaft angefühlt.

Er hat nur die Wahrheit gesprochen, als er behauptet hat, dass ich nicht mit mir selbst leben kann. Ich bin ein Einzelkind in einer zersplitterten Familie. Ich kann mich an keinen Tag in meiner Kindheit erinnern, an dem ich nicht mindestens 12 Stunden alleine gelassen wurde. Manche können sich vielleicht mit der Einsamkeit anfreunden - ich konnte es nie.

Es liegt nicht daran, dass ich ein zu großes Herz habe, das voller Liebe ist, dass ich es nicht aushalte, nicht jedem davon etwas abzugeben. Es ist klein und kaputt. So viele Menschen haben meine Freundlichkeit und meine Geduld ausgenutzt, dass fast nichrs mehr davon übrig ist, um es zu teilen. Sie alle haben damit Fußball gespielt. Sie haben es um sich geschossen. Jeder durfte einmal kicken, passen und ein Tor machen, bevor sie es weggeworfen haben, um ein heiles, neues Produkt zu suchen, mit dem man zukünftige Matches gewinnen kann.

Gestern Nacht habe ich es einfach gebraucht. Ich habe seine Nähe, seine Wärme und die Sicherheit gebraucht, die er austrahlt. Eine Welle der Dankbarkeit hat mich eiskalt erwischt und ich musste es rauslassen. Auch wenn Ives geschlafen hat, habe ich die Chance genutzt, die mir geboten wurde, doch schon am Morgen habe ich es bereut. Ich habe mich aus seinem Bett geschlichen und habe sofort Nessa angerufen. Ich habe keinen Halt gemacht, als sie mir müde erzählt hat, dass ich sie in Ruhe lassen soll. Es ist mir egal gewesen. Ich musste alles loswerden und habe mich bei ihr ausgeheult.

Beginnst du jetzt auch mit deinem Penis zu denken, hat sie mich gefragt und ich habe verneint. Dass ich mich noch nie sexuell zu ihm hingezogen gefühlt habe, wäre gelogen, aber deswegen kuschle ich mich nicht an ihn. Ich werde es auch nie wieder tun.

Ein in Karamell getauchter BackenzahnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt