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Jonas

»Er hat geweint«, sagt sie nun wahrscheinlich schon zum vierunddreißigsten Mal, seit Ives verschwunden ist. Inzwischen ist er seit drei Stunden nicht mehr aufgetaucht. Er hat weder sein Handy, seine Schlüssel noch seine Geldtasche mitgenommen, da er sofort nach unserem Gespräch gegangen ist. Ich bin mir sicher, er ist es, weil er geweint hat und es ihm peinlich war. Er möchte uns wahrscheinlich nie wieder in die Augen sehen müssen. »Er hat tatsächlich geweint.«

Ich kann meine Wut nicht länger zurückhalten, egal wie sehr ich auch versuche, alles für mich zu behalten und mich mit Bells ablenke. Alles bricht aus mir heraus. »Halt doch endlich mal die Klappe! «

Sie sieht überrascht von ihrem Tee auf und mustert mich interessiert. »Was?«

»Halt die Klappe!«, wiederhole ich mich und halte Bells fest an mich gedrückt. Dem Kätzchen scheint meine erhobene Stimme Angst zu machen. Im Stillen entschuldige ich mich bei dem kleinen Fratz und streichle es hinter den Ohren. »Ives ist vor Scham abgehauen und alles, was du kannst, ist jetzt darüber auch noch stundenlang zu quatschen. Kannst du nicht einmal etwas verständnisvoller sein und vielleicht die Klappe halten?«

Die Wut lässt nicht nach, auch wenn ich sie herauslasse. In all den Jahren, in denen wir uns kennen, hat sich viel angestaut. In dem Damm meiner Zurückhaltung bilden sich jedoch Löcher und sie werden mit jedem Wort und jedem Atemzug ihrerseits größer. Er beginnt er zu reißen, bis er bald komplett zusammenbrechen wird.

»Was soll das heißen?«, fragt sie mich. In ihrer Stimme liegt der warnende Unterton, den sie schon von klein auf hat. Er bringt das Hässlichste in ihr zum Vorschein.

Ich streichle Bells über das Fell. Durch die ganzen Schmerzmittel fühle ich nichts mehr. Meine Finger sind ganz taub und das sonst so weiche Fell fühlt sich seltsam wolkig an.

»Genau das, was ich gerade gesagt habe«, pfeffere ich zurück und funkle sie herausfordernd an. »Findest du nicht, dass es vielleicht mal an der Zeit ist, dass das Theme ruhen zu lassen und wir lieber zum nächsten Punkt auf der Liste kommen sollten?«

»Du bist plötzlich richtig scheiße drauf, Jonas. Du hast wirklich viel zu viel Zeit mit Ives verbracht«, brummt sie und rührt mir festen Schüben in ihrem Tee herum. Der Löffel klirrt dabei an das Porzellan und erweckt das Wutmonster in mir.

Vorsichtig setze ich Bells neben mir ab und erhebe mich. Ich reiße ihr die Tasse aus der Hand und stelle sie fest auf dem Tisch ab.

»Du hast keine Ahnung wie Ives überhaupt ist. In keiner Minute, in der ihr zusammen gelebt habt, hast du auch nur versucht, ihn besser kennenzulernen. Du hast ihn immer weggeschickt, fertig gemacht und alles daran gesetzt, dass er so wenige Worte wie überhaupt möglich mit dir wechselt.« Ich raufe mir die Haare und werfe mich zurück auf das Sofa. Mir ist ganz schwummrig von den vielen Wirkstoffen.

»Was willst du damit sagen?«, fragt sie mich genervt.

»Ich Idiot habe dir vertraut. Ich habe getan, was du von mir wolltest. Ich habe mich von ihm fern gehalten. Ich habe ihn ignoriert, versetzt und abgelehnt bei jeder mir auch nur gegeben Chance. Ich habe ihn verletzt, um nicht dich zu verletzen und das jeden einzelnen Tag. Jedes einzelne Mal. Ich versteh aber so langsam gar nicht mehr für was das eigentlich gut sein soll. Ich habe das Gefühl, dass ich mich immer nur von dir herumschubsen lasse, weil du meine einzige Freundin bist. Ich kenne niemanden außer dich, aber du bist keine richtige Freundin, Nessa. Freunde machen sowas nämlich nicht. Schwestern auch nicht. Nur gefühlskalte Egoisten.«

Ein in Karamell getauchter BackenzahnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt