4. Kapitel: Erkenntnis

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Jemand bog gewaltsam meine verkrampften Finger auseinander, drückte etwas Kleines, Flaches in die Mulde meiner Handfläche und schloss die Finger wieder.
Der Orkan in meinem Kopf erstarb augenblicklich und ich wankte unter der drückenden Stille in mir.

»Sind Sie wahnsinnig?!«, hörte ich die entsetzte Stimme der Richterin rufen.

»Ja«, antwortete ich benommen und versuchte, mich zu orientieren. Ich saß auf dem Boden. Elion kniete neben mir. Mit einer Hand stützte er meinen Rücken, mit der anderen umschloss er fest meine Rechte.

»Nicht loslassen!«, beschwor er mich eindringlich, ehe er mir unter die Arme griff und mich mühelos hochzog.

Am liebsten hätte ich mich angesichts meiner weichen Knie sofort wieder fallengelassen, doch Elions stahlharter Griff hielt mich unbarmherzig auf den Beinen. So blieb meinem geschundenen Verstand nichts anderes übrig, als sich aus dem absurden Bild, das sich mir bot, eine mehr oder weniger logische Erklärung zu basteln.

Die Erklärung war nicht sehr elegant, aber simpel: Copettius anwaltliche Qualitäten zeichneten sich anscheinend dadurch aus, dass er die gegnerische Seite kurzerhand über den Haufen schoss, sobald er eine Niederlage befürchten musste. Eine durchaus wirkungsvolle Strategie, wenn auch etwas überzogen.
Mit vor Scheiß glänzendem Gesicht stand er neben dem Anwaltstisch, einen altmodischen klobigen Revolver auf Grubert gerichtet.
Der saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, eine Hand auf die Brust gepresst. Dunkles Blut sickerte in schnellen, unaufhaltsamen Strömen darunter hervor und breitete sich wie ein grausiges Batikwerk auf seinem weißen Kittel aus. Sein Begleiter hatte sich halb unter dem Tisch versteckt, lediglich Hintern und Beine in mausgrauen Hosen lugten schlotternd hervor.

Grubert wirkte ... verstimmt. Anders konnte man seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Die Lippen zusammengepresst, die Nase gerümpft und eine Augenbraue zur rhetorischen Frage erhoben, ob das denn nun wirklich hatte sein müssen. Vermutlich machte er das gleiche Gesicht, wenn ihm eine Taube auf die Schulter schiss. Oder wenn Bertram über beißende Patienten klagte. Oder wenn seine Lieblingsbrötchen sonntagmorgens beim Bäcker vergriffen waren. Ja, Grubert war definitiv der Typ, der in solchen Momenten genau so ein Gesicht zog. Verstimmt, aber nicht verärgert, weil so ein Gefühl unter seine Würde war; selbst wenn man auf ihn geschossen hatte.

»Legen Sie sofort die Waffe weg!«, rief die Richterin, die weitaus angemessener auf diese Situation reagierte. Stocksteif und bleich wie der Tod stand sie hinter ihrem Pult. In ihrem Talar glich sie einer Krähe mit weit ausgebreiteten schwarzen Flügeln, die mühsam versuchte, die Kontrolle über einen Haufen durchgedrehter Spatzen zurückzugewinnen. Sie schien sich unsicher zu sein, ob eine rasche Flucht oder richterliche Autorität ihre Aussichten verbesserten, diesen Saal lebend zu verlassen.

Der Wachmann neben ihr hingegen wirkte nicht so, als würde er irgendetwas Konstruktives – wie etwa den Gebrauch seiner Dienstwaffe – auch nur in Betracht ziehen. Gelassen, beinahe neugierig wanderte sein Blick zwischen Grubert und Copettius hin und her. Der Typ musste den Ruhepuls eines Steins haben.

Grubert richtete sich ächzend in seinem Stuhl auf. »Was für eine überraschende und gleichwohl amüsante Wendung der Geschichte.«

Elion schob sich zwischen mich und Grubert. »Nabor«, stieß er gepresst hervor, »ich sehe einen Schatten über ihm.«

Copettius hob ruckartig die Hand und gebot Elion zu schweigen.

Grubert lächelte. Mein Gott, der Mann war gerade angeschossen worden und lächelte! »Sieh an. Der Welpe sieht und spricht mehr, als gut für ihn ist, Quradim. Die ganze Zeit habt ihr euch versteckt und auf euren großen Auftritt gewartet. Und dann vermasselt es dein Junge.« Blut sammelte sich auf seinen Lippen, aber er schien es nicht zu bemerken. Oder es war ihm egal. »Es wird genau so kommen wie damals: Am Ende werdet ihr ebenso scheitern wie am Anfang.« Grubert lachte gehässig. Blutige Bläschen bildeten sich in seinen Mundwinkeln, zerplatzten und bedeckten seine Wangen mit roten Tröpfchen. »Die Legion ist bereits auf dem Weg und sie werden aus euren erbärmlichen Körpern Fraß für die Alten machen. Und dann«, ein zäher Klumpen blutigen Gewebes hustend, beugte er sich vor und rang um Atem, »dann wird ein neues Zeitalter beginnen, Quradim, und eure Linie wird – «
Ein weiterer Schuss fiel. Gruberts Kopf wurde nach hinten gerissen. Eine fleischfarbene Masse spritzte auf die Sitzreihe hinter ihm.

Daimonion: Dunkle WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt