42. Kapitel: Imitatio

18 3 17
                                    

Die Zelle war kaum größer als ein Besenschrank, dafür aber gepanzert wie ein Hochsicherheitstresor. Keine einzige Niete, keine Schweißnaht ließ darauf schließen, wie es den Erbauern der Zelle gelungen war, die sechs stumpfgrauen Eisenwände miteinander zu verbinden. Lediglich zwei unterarmdicken Scharniere an der mir gegenüberliegenden Wand verrieten, dass sich dort eine massive Eisentür befand, die sich ansonsten für das menschliche Auge unsichtbar in die Wand einfügte.

Im direkten Vergleich zu meiner Zelle bei den Mithrae hatten sich meine bescheidenen Wohnverhältnisse deutlich verschlechtert. Nicht nur, weil es kein Fenster gab, das mir Auskunft über den Wechsel zwischen Tag und Nacht hätte gegen können; auch die Inneneinrichtung schaffte es, mein altes Gefängnis wie ein eine Fünf-Sterne-Suite erscheinen zu lassen: Sie bestand aus einer Metalltoilette ohne Deckel, einer grell flackernden Neonlampe an der Decke sowie einer blanken Metallpritsche, die gegenüber der Toilette aus der Wand ragte. In der schmalen Nische zwischen Pritsche und Toilette kauerte ich, betäubt durch den Schmerz, der sich durch jede Zelle meines Körpers fraß, der klirrenden Kälte sowie meinen eigenen erbärmlichen Gestank. So wartete ich darauf, dass sich die Tür öffnen und mein Schicksal auf die ein oder andere Art besiegelt werden würde.

Ich zupfte an dem vor Dreck starrenden Verband an meiner linken Hand herum. Schmutzig rötliche Streifen schimmerten dort hindurch, wo das Metall der Samadu auf meiner gefühllosen Haut lag. Unter der Dreckkruste wirkten meine freiliegenden schlaffen Finger milchigblass, aber nicht abgestorben. Wie es mit dem Rest meiner Hand aussah, darüber wollte ich nicht nachdenken.

Genauso wenig wie ich darüber nachdenken wollte, was passierte, wenn jemand der Nephilim auf die Idee kam, mir aus hygienischen Gründen den schmutzigen Verband abzunehmen, bevor sich etwaige Wunden darunter infizieren und ich an einer Blutvergiftung sterben würde.

Ich wollte auch nicht darüber nachdenken, was mit Lay, Simon oder Salma geschehen sein mochte, nachdem sie uns getrennt hatten. Alles, was man ihnen antat, war einzig und allein meine Schuld.

Und Elion ... Ich schlug meinen Hinterkopf wieder und wieder gegen die unnachgiebige Wand hinter mir, bis ein schmerzhaftes Pochen unter meiner Kopfhaut auch noch den letzten Fetzen Erinnerung daran betäubte, was James Sullivan Elion angetan hatte.

Falls irgendjemand mitbekam, wie ich versuchte, mir selbst den Schädel einzuschlagen, war es ihm egal. Niemand kam, um meine selbstzerstörerische Routine zu durchbrechen.

Wahrscheinlicher war es, dass man mich vergessen hatte. Unter den gegebenen Umständen war das wohl das Beste, was mir passieren konnte.

Also wiederholte ich ungestört diese Prozedur in unregelmäßigen Abständen, immer und immer wieder, sobald die Erinnerungen sich in mein Bewusstsein drängen wollte. In den unsteten Phasen dazwischen starrte ich apathisch auf die unsichtbare Tür. Dann wieder dämmerte ich in einem schreckhaften Halbschlaf voller geflügelter Albtraumgestalten vor mich hin, die durch meine Zelle schlichen und im Flackern der Neonröhre verschwanden. In klareren Momenten wiederum fragte mich, warum zum Teufel ich nicht abgehauen war, als ich noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Nichts von all dem wäre passiert, wenn es mir gelungen wäre, mich abzusetzen und ich versucht hätte, mich alleine durchzuschlagen. Vermutlich wäre es mir nicht gelungen, selbst als Elion mitten in der Nacht verschwunden war, um mir Burger zu besorgen. Lay hätte mich aufgehalten. Simon vermutlich auch. Oder auch nicht. Aus dem Magus und seinen Absichten war ich bis zum Schluss nicht schlau geworden. Auch bei Salma war ich mir nicht sicher. Vielleicht hätte die sanftmütige Heilerin sich mir in den Weg gesellt, mehr wohl nicht.

Aber ich hatte es ja nicht einmal versucht. Stattdessen hatte ich mich darauf verlassen, von Halbgöttern beschützt zu werden, die nicht nur um ein Vielfaches stärker waren und übernatürliche Fähigkeiten besaßen, sondern darüber hinaus auch wussten, was in der Welt tatsächlich geschah: dass es engelsgleiche Götter gab, die es nicht gut mit den Menschen meinten – und wie man sie aufhalten konnte. Ein Wissensvorsprung, der womöglich über Leben und Tod entscheiden konnte. So hatte ich es mir zumindest eingeredet. Doch spätestens als der Bumvee wie aus dem Nichts explodiert war, hätte ich mir eingestehen müssen, dass es einen anderen Grund gegeben hatte, der mich dazu verleitet hatte, zu bleiben: die Angst vor der Einsamkeit. Wieder auf mich alleine gestellt zu sein und nicht zu wissen, wie ich den nächsten Tag überleben sollte. Dabei war doch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, sobald ich mich auf andere einließ, sondern lediglich Schmerz, Wut und ... der Tod.

Daimonion: Dunkle WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt