14. Kapitel: Weitsicht

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»Fuck! Fuck! Fuck! Fuck!« Simon begleitete jeden seiner Flüche mit einem Faustschlag auf die Hupe. »Ich wusste, dass das ein Scheißtag werden würde!« Mit erhobenem Zeigefinger drehte er sich zu Lay. »Was habe ich zu dir gesagt, als ich heute Morgen meine Glücksboxershorts nicht finden konnte?«

»Dass heute ein Scheißtag werden würde«, antwortete Lay stirnrunzelnd.

»Ganz genau! Ein Scheißtag!« Er verschränkte die Hände über seinem Kopf und rieb kräftig, bis sich einzelne schwarze Strähnen aus seinem Zopf lösten. »Und du wolltest mir einreden, ich würde überreagieren.«

Ein Schopf roter Haare tauchte neben mir auf. »Was ist denn los?«, fragte Salma mit schleppender Stimme und rieb sich die verquollenen Augen. »Warum machst du solch einen Lärm?«

»Weil unser Primus jetzt offiziell ein Massenmörder ist«, erwiderte Simon grimmig. »Der Orden hat das Tribunal zusammengerufen, weil Elion Nabor und fünfhundert Zivilisten umgebracht hat«, holte er weiter aus.
Salma keuchte erstickt auf und klammerte sich an der Rückenlehne meines Sitzes fest.

»Ich kann bezeugen, dass Elion seinen Vater nicht umgebracht hat«, schaltete ich mich zu meiner eigenen Verwunderung ein. Die Aussicht, schon bald erneut vor einem Gericht aussagen zu müssen, war nicht sonderlich berauschend, aber die Anschuldigungen, die gegen Elion erhoben wurden, entbehrten jedweder Grundlage. Noch dazu wurden sie so schnell erhoben. Bei mir hatte es mehrere Wochen gedauert, ehe Anklage erhoben worden war, und weitere vier Monate, bis es zur Verhandlung gekommen war – und mich hatte man direkt neben Roberts und Evelins Leichen gefunden. »Nabor hat Elion aufgefordert, mit mir zu fliehen, und er lebte, als wir gemeinsam den Gerichtssaal verließen.« Ich berichtete von unserer Flucht, der gewaltigen Explosion und dem Erscheinen der Göttin kurz darauf, doch die Anspannung in den mir zugewandten Gesichtern wollte nicht weichen. »Es muss sich also um ein Missverständnis halten«, schloss ich fest, »das sich mit Sicherheit schnell auflösen lässt.«

»Danke für deinen Bericht, aber er ist für das Tribunal irrelevant. Die Funktion des Tribunals besteht nicht darin, über Schuld oder Unschuld zu entscheiden«, klärte Lay mich auf, »sondern darin, das Strafmaß festzulegen.«

»Es gibt keine Anhörungen?«, fragte ich ungläubig. »Was ist mit der Unschuldsvermutung?«

»Die ist in unserer Rechtsprechung nicht vorgesehen. Sieben ungebundene Seher und Seherinnen haben unabhängig von einander Elions Schuld festgestellt.« Lay klang mit jedem Wort distanzierter. »Damit ist zweifelsfrei erwiesen, dass er Nabor getötet und anschließend eine Explosion ausgelöst hat, bei der weitere Leben beendet wurden.«

»Aber ...« Verwirrt schaute ich zwischen Lay und Simon hin und her. »Das ist nicht die Wahrheit!«

»Doch, ist es.« Simon rang mühsam um Ruhe. »Ausgebildete Seher und Seherinnen machen keine Fehler. Wenn sie sagen, Elion sei ein Mörder, dann ist er ein Mörder.«

Der flehende Ausdruck in Lays Augen war verschwunden und ihr Gesicht zu einer undurchdringlichen Maske geworden. »Und deshalb werden wir ihn ausliefern.«

Simons Arm war nur ein huschender Schemen, als er nach Lays Hand griff, die sie in Richtung Display ausstreckte. »Oder wir sagen Scheiß drauf, suchen uns einen Unterschlupf und hören uns an, was Elion dazu zu sagen hat, sobald er dazu wieder in der Lage ist.«

»Es ist unerheblich, was Elion dazu zu sagen hat. Wir haben einen Befehl erhalten.«

»Ja, aber du hast diesen Befehl nicht gehört und damit ist er nicht bindend«, entgegnete Simon rasch. »Komm schon, Lay. Elion würde niemals grundlos-«

»Er hat diese Menschen nicht getötet, das ist unmöglich«, hörte ich Salma leise neben mir sagen. Ich nickte ihr zu. Ganz ihrer Meinung. Es war mir egal, was ihre sogenannten Seher und Seherinnen meinten: Ihr vorschnell gefälltes Urteil war schwachsinnig.

Daimonion: Dunkle WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt