22. Kapitel: Märchenstunde

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Es war einmal vor langer Zeit, da lebte ein kleines Mädchen, das an die Mär glaubte, Bildung sei eine wahrhaftige Chance, um ihren bösen Stiefmüttern und Stiefvätern zu entkommen, die in jedem neuen Zuhause auf sie lauerten. Dort gab es selten Bücher, doch das kleine Mädchen hatte ganz ohne Brotkrumen den Weg in die öffentliche Bibliothek gefunden, die nicht nur voll mit gedrucktem Wissen war, sondern nach der Schule auch ein sicheres Versteck bot, aus dem erst sie erst vertrieben wurde, sobald die Öffnungszeit es gebot.

Das kleine Mädchen wusste, es würde kein Prinz kommen, um sie zu retten. Nein, sie musste sich selbst retten, immerhin hatte sie sich die Scheiße auch selbst eingebrockt, in der sie jeden Morgen erwachte. Wissen war ein Schlüssel zur Rettung, zur Freiheit, und sie würde alles dafür tun, um ihn in ihre Finger zu bekommen.

Doch dann war der Tag gekommen, an dem das Märchen jäh endete.

Es war ein eisiger Wintermorgen gewesen, so kalt, dass das Mädchen seinen eigenen Atem sehen konnte. Die Heizungen in der nach feuchten Wänden müffelnden Wohnung waren abgestellt, weil ihre Pflegeeltern Geld sparen wollten und davon überzeugt waren, Frieren diene der Charakterbildung. Also hatte sich das kleine Mädchen im Badezimmer beeilt, zähneklappernd gewaschen und die widerspenstigen Haare gebürstet, um so schnell wie möglich in ihre abrissreife Schule gehen zu können, in der die Fensterrahmen zwar undicht, die Räume dennoch um einige Grad wärmer waren als in ihrem neuen Zuhause auf Zeit.
In ihrer Eile hatte das kleine Mädchen vergessen, die Badezimmerfliesen nach ausgekämmten Haaren zu überprüfen. Ihre Stiefmutter hasste Haare auf dem Boden. Um die Wiederholung eines solch unverzeihlichen Fehlers zu verhindert, hatte sich die böse Stiefmutter kurzerhand die rostige Küchenschere geschnappt und das Haar des kleinen Mädchens bis auf die Kopfhaut abgeschnitten.

So war sie, mit vereinzelt übersehenen Haarbüscheln zwischen blutigen Striemen auf dem Kopf, in die Schule gegangen.
Den Spott der anderen Kinder hielt das kleine Mädchen aus.
Der Spott der Lehrerin hingegen brach ihr das kleine Herz.
Das bösartige Herz der Lehrerin brach kurz darauf und zurück blieb ein mausetoter Körper mit hervorquellenden Augen und einer angeschwollenen schwarzen Zunge und die Schreie der Kinder und das zufriedene Lächeln des kleinen Mädchens.

Von da an mied das kleine Mädchen die Schule, denn sie wusste nun, sie war dort nicht sicher. Bald darauf verlor auch die magische Bibliothek ihren Zauber, denn wozu nützte schon Wissen, wenn es am Ende kein Stück Papier gab, auf dem Noten ihr Wissen bezeugten?

Also verließ das kleine Mädchen morgens die Wohnung ihrer bösen Stiefmutter, trieb sich in den Gossen der großen Stadt herum und machte bald Bekanntschaft mit zwielichtigen Kobolden und gewitzten Schurken und das kleine Mädchen dachte, es sollte sich lieber einer der vielen Räuberbanden anschließen, statt selbst eines ihrer Opfer zu werden. Und da sie nicht nur flinke Finger hatte und schnell rechnen konnte, sondern auch noch all ihre Zähne besaß und trotz ihrer missmutigen Miene gerade noch hübsch genug aussah, um Liebe zu verkaufen, fand sich schnell ein Räuberhäuptling, der sich ihrer erbarmte und sie seltener schlug, als sie es gewohnt war.

Bald schon kehrte das kleine Mädchen gar nicht mehr zurück zu ihrer Stiefmutter und da niemand nach ihr suchte, wusste sie um ihren Wert in der Gesellschaft und wohnte von nun an in der Räuberhöhle und vergaß, wie sich das Rascheln umgeschlagener Buchseiten anhörte und dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie nichts mehr geliebt hatte als dieses Geräusch.

Und wenn sie nicht gestorben ist, dann nur, weil eine böse Fee auf sie Acht gab.


Daimonion: Dunkle WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt