39. Kapitel: Über selbstsüchtige Gefühle

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»Liebt Elion dich?«

Die Frage kam so unvermittelt, dass ich ihre Bedeutung zuerst gar nicht verstand. Wie kam sie darauf, dass Elion ... Natürlich, Lay hatte den Kuss zwischen uns beobachtet und zog nun falsche Schlüsse. Waren Elions Gefühle für mich etwa eine weitere Variable, die sie für ihre Berechnungen brauchte?

»Nein«, sagte ich fest. »Man kann nicht jemanden lieben, den man erst seit drei Tagen kennt.« Zugegeben, ganz sicher war ich mir damit nicht: Liebe war kein Konzept, das in den letzten fünfzehn Jahren Platz in meinem Leben gefunden hatte. Das Höchste meiner Gefühle hatte ich Herbert, meiner unglückseligen Kröte, entgegengebracht. Aber das war eher eine Art Zuneigung gewesen, weil Herbert der Einzige gewesen war, der mich nicht wie einen Sack Müll behandelt hatte.

Lay gab sich nicht zufrieden. »Warum hat er dich dann geküsst?«

Ich dachte daran, wie eilig Elion es gehabt hatte, den Kuss zu beenden, sobald er sich sicher gewesen war, dass Lay ihn gesehen hatte. Ein Muskel unterhalb meines linken Schlüsselbeins ziepte stechend. »Er wollte mich loswerden.«

»Klingt plausibel.« Die Seherin nickte knapp. Sie wirkte erleichtert.

Klar, dachte ich bitter. Plausibler als die Annahme, jemand sei in mich verliebt. Dann erinnerte ich mich an den eisigen Blick, mit dem Lay Elion und mich bedacht hatte. An die unausstehliche Art, mit der sie mich von Anfang an behandelt hatte, während sie Elion bedingungslos in all seinen Plänen und Befehlen gefolgt war. Konnte es sein, dass Lay in Elion verliebt war? Aber hätte sie ihn dann ohne Widerworte zurückgelassen? Hätte sie nicht zumindest versucht, ihn umzustimmen?

Lays Gesicht oberhalb des Tuches war ausdruckslos, ihre blauen Augen verrieten nichts als strenge Fokussierung auf ihre Aufgabe. Vielleicht war das ja Liebe: Nicht zu kämpfen, sondern sich ins Unvermeidliche zu fügen.

Ich hatte schon längst die Orientierung verloren – in jedweder Hinsicht – doch Lay schien zu wissen, in welche Richtung wir gehen mussten. Als wir schließlich aus dem Sturm heraustraten, geschah dies so jäh und ohne Vorwarnung, dass ich mich ungläubig umdrehte. Hinter uns erhob sich die rotierende dunkle Sturmwand bis in den Himmel, der jenseits des Sturms in ein tiefes Abendrot getränkt war. In meinen Ohren sauste es weiterhin, doch ansonsten war es gespenstisch still.

»Warum bleibst du ständig stehen?!«, fuhr Lay mich gereizt an.

Langsam legte ich den Kopf in den Nacken, sah nach links und dann nach rechts und versuchte, die Ausmaße des Sturms zu erfassen. Als hätte ein gewaltiges Messer ihn fein säuberlich durchschnitten, zog sich die Sturmwand in beide Richtungen, aber in der Ferne glaubte ich zu erkennen, dass er sich nach innen wölbte, als beschriebe er eine Kurve. »Das ist kein natürlicher Sturm«, sprach ich aus, was ich von Anfang an vermutet hatte. »Den hat jemand geschickt, um uns aufzuhalten.«

Lay schnaubte. »Jemand hat ihn geschickt

Unwirsch wedelte ich mit der Hand. »Oder heraufbeschworen, mir egal, wie du es nennen willst.«

»Niemand kann einen Sturm heraufbeschwören. Auch keine Idrin«, ergänzte Lay ungeduldig. »Elemente können nicht kontrolliert werden.«

»Sag das den Menschen, die wegen mir ertrunken sind«, entgegnete ich tonlos. Ich streckte die rechte Hand aus und berührte den Rand des Sturms. Auf meinen Fingerspitzen spürte ich den kalten Wind, während die Ascheflocken vor der Wand träge und beinahe waagerecht vom Himmel auf meinen Handrücken schwebten.

Ich zuckte erschrocken zurück, als etwas meine Fingerkuppen streifte. Kein Wind, sondern etwas Festes. Vermutlich ein aufgewirbeltes Blatt. Dann drehte ich mich zu Lay um.

Daimonion: Dunkle WasserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt