5.

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Brooke schritt durch das knöchelhohe Gras. Rechts und links von ihr ragten Birken aus der feuchten Erde. Genau dieser Platz, keine zwanzig Minuten von London entfernt, erinnerte sie so sehr an Bibury. Hier zog es Brooke hin, jedes Mal, wenn sie nicht weiter wusste, wenn ihr alles zu viel wurde. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Die junge Frau ging in die Hocke. Fast automatisch glitt ihr Finger auf den Auslöser der Kamera, welche sie in den Händen hielt. Seit Brooke denken konnte, war da dieses spezielle Band zwischen ihr und dem Schießen von Bildern. Aus diesem Grund hatte sie auch Fotografie studiert und sich in Bibury den Traum von einem kleinen, eigenen Atelier erfüllt, in dem sie ihre Bilder ausstellte. Brooke senkte den Blick. All diese Erinnerungen lagen in weiter Ferne. Unerreichbar. Nichts zählte mehr. Rein gar nichts. Brooke stand auf, ließ den Wind ihre Haare zerzausen. Es war nicht von Bedeutung, nichts mehr lohnte sich für sie. Fallon hatte sie gehen lassen, einfach so. Der letzte Funke Hoffnung in Brooke war erloschen, ein für alle Mal. China wartete, Peking wartete. Ein neues, ein anderes Leben, ein Leben am anderen Ende der Welt. Ein leises Grollen durchbrach die Stille. Regentropfen prasselten auf Brooke nieder, durchnässten ihre Kleidung und sie schenkte dem keinerlei Beachtung. Es interessierte sie nicht, nichts interessierte sie mehr.

Brooke überquerte die Straße. Inzwischen schüttete es wie aus Eimern. Dunkle Wolken schmückten den morgendlichen Herbsthimmel. Kein Mensch war unterwegs. Warum auch? Kein normal Sterblicher setzte bei diesem Wetter auch nur eine Zehenspitze vor die Haustür. Brooke erreichte das mehrstöckige Gebäude, in welchem sich noch vor kurzem ihre Wohnung befunden hatte. Ein neuer Flug war noch nicht gebucht. Und nun? Sollte sie auf der Straße schlafen? Vor ihrer Wohnungstür blieb Brooke stehen. Ihr Koffer stand da, reglos, als hätte er auf sie gewartet. Ein Gedanke keimte in ihr auf. Sie würde gehen, heute noch, das war doch ein guter Zeitpunkt, um Fallon ihre Gefühle zu gestehen. Oder? Entschieden ging Brooke zu Fallons Wohnung hinüber und betätigte die Klingel. Wie würde ihre Nachbarin reagieren? Brooke schloss die Augen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. „Brooke?“ Sorge spiegelte sich in Fallons Augen wieder so wie sie die Tür öffnete. „Hey, du bist ja völlig durchnässt. Warst du etwa bei diesem schrecklichen Wetter draußen?“ Sie nickte nur. Die Entschlossenheit schwand. Brookes Vorhaben ihrer Nachbarin zu beichten, was sie fühlte, schien sich wieder in den Hintergrund zu verabschieden. „Du bist vorhin so schnell verschwunden Brooke, ich weiß, es war nicht gerade nett von mir dir einfach nur eine gute Reise zu wünschen, aber....aber mir ist klar geworden, wie viel du mir bedeutest.“ Fallon holte tief Luft. „Bitte bleib hier Brooke. Ich brauche dich. Als....als Freundin.“ Als Freundin? Genau das war es. So sehr Brooke die Worte ihrer Nachbarin auch berührten, sie wusste, dass sie Fallon niemals nur als Freundin sehen würde. „Ich kann nicht bleiben Fallon, so gerne ich es auch möchte.“ „Dann sag mir wenigstens, warum du gehst. Bitte Brooke.“ Brooke rieb sich fröstelnd die Oberarme. Warum konnte diese Frau denn keine Ruhe geben? „Hat es mit mir zu tun?“, bohrte Fallon weiter. „Nein. Nein. Es....es hat nichts mit dir zu tun.“ „Mit wem dann?“ Mit mir selbst. Sie trat ein paar Schritte zurück. Mit mir selbst. Ich bin eine Mörderin. Eine Mörderin, die sich in eine Polizistin verliebt hat. „Wann geht dein Flieger?“,erkundigte Fallon sich jetzt. Offenbar hatte sie es aufgegeben, die Wahrheit aus Brooke herauszuquetschen. „Ich habe noch keinen neuen Flug.“ „Hast du deinen Wohnungsschlüssel schon abgegeben?“ Brooke bejahte die Frage. „Willst du vielleicht reinkommen, dann kannst du dir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen und änderst deine Meinung....“ Fallon sprach nicht weiter. Auffordernd blickte sie Brooke an. Diese senkte den Kopf. Natürlich konnte sie das Angebot ihrer Nachbarin ausschlagen. Aber wollte sie das? Einerseits rief Peking , die Flucht, andererseits gab es hier eine Frau, die ihr viel bedeutete. Brooke sah Fallon an und jene schien ihre Gedanken zu lesen. Lächelnd trat sie zur Seite und gab den Weg in ihre Wohnung frei. „Komm schon, nur für eine halbe Stunde.“

Brooke setzte die Teetasse ab. Eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde hatte Fallon gesagt. Seit fast zwei Stunden saß Brooke jetzt hier in der Küche ihrer Nachbarin und nippte an einer Tasse heißem Pfefferminztee. „Ohh, wir haben ja vollkommen die Zeit vergessen.“, stellte Fallon mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest. Brookes Mundwinkel wanderten nach oben. In Gegenwart dieser Frau
fühlte sie sich leicht, unbeschwert, so als würde der ganze Schmerz nicht existieren. „Du hast ja jetzt noch immer keinen Flug.“ Fallon stand von ihrem Stuhl auf. „Nein.“,gab Brooke knapp zurück. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle hingelegt, so müde war sie. „Wie hast du dir das eigentlich vorgestellt? Ich meine, es gibt ja eine Kündigungsfrist und die Miete musst du ja auch noch so lange zahlen, bis die Frist abgelaufen ist. Wolltest du das von Peking aus tun?“ Brooke nickte. „Hm.“, überlegte Fallon. „Ob das so geklappt hätte? Naja. Weißt du was, du könntest natürlich auch erst morgen fliegen und heute einfach bei mir übernachten, so hätten wir wenigstens noch etwas Zeit, uns richtig voneinander zu verabschieden.“ Ihr stockte der Atem. Übernachten! Bei Fallon! „Ähm. Ich...also....“ Brookes Wangen begannen zu glühen. „Ich...das....“ Mist! Sie bekam einfach keinen gescheiten Satz heraus. „Hey, alles gut.“ Fallon war an sie herangetreten und legte ihr eine Hand auf. Verdammt! Brooke erhob sich ebenfalls von ihrer Sitzgelegenheit. Keine gute Idee, denn noch bevor sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stolperte die junge Frau und prallte in der nächsten Sekunde gegen Fallon. Brooke kam es so vor, als würde die Zeit ab diesem Moment vollkommen stillstehen. Sie konnte ihren Blick einfach nicht von den schokoladenbraunen Augen lösen , versank förmlich darin. Erst Fallons leise Stimme holte Brooke schließlich in die Realität zurück. „Brooke? Ist alles in Ordnung?“ „Ja.“, antwortete sie heiser und spürte, wie ihre Gesichtsfarbe noch ein wenig mehr an Röte annahm.

Und sie atmete - Eine Frau die ungewollt tötetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt