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12 September 2012
Brooke hob den Kopf. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das grelle Licht. Absolute Dunkelheit, dass war das, was sie brauchte. In der Finsternis sah sie niemand, keiner konnte ihr zu nahe kommen, geschweige denn mehr über sie erfahren. Brooke stand von ihrem Stuhl auf, ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. Die wievielte Wohnung war das jetzt? Die junge Frau seufzte. Sie wusste es ganz einfach nicht. An irgendeinem Punkt hatte sie aufgehört zu zählen. Jegliche Momente der letzten Jahre schienen wie in einen weisen Nebelschleier gehüllt, so als würde Brookes Gehirn versuchen, diese endgültig aus ihren Gedanken zu verbannen. Erfolglos.
Brooke blieb stehen und knipste die Taschenlampe aus. Schwärze umfing sie. Niemand konnte die Vergangenheit auslöschen. Verdrängen war möglich, natürlich, jedoch lediglich für eine bestimmte Zeit, denn irgendwann, das wusste Brooke nur zu gut, kam alles wieder an die Oberfläche. Sie schloss die Lider. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie musste dass alles durchstehen. Es gab keinen anderen Weg. Brookes Körper bebte, so wie sie die Augen wieder öffnete. Sie sah auf ihre Hände hinunter. Blutreste klebten unter ihren Fingernägeln und zeigten ihr einmal mehr, was sie vor nicht einmal zwei Stunden, wiederholt getan hatte.
Abrupt ließ ein lautes Klingeln sie herumfahren. Die Tür. wer konnte das sein? Hastig eilte Brooke aus dem dunklen Schlafzimmer, schaltete die Taschenlampe ein und suchte mithilfe des goldfarbenen Lichtkegels nach dem Lichtschalter. Schon einen Herzschlag später strahlte der Flur beinahe so hell wie am Tag. Angst durchströmte Brookes Körper, sowie sie die Tür aufsperrte und die Klinke nach unten drückte.
Allerdings schwand dieses Gefühl relativ schnell, als Brooke in der Frau, welche vor ihrer Wohnung stand, ihre Nachbarin Fallon O'Connor erkannte. Schwarze, winzige Löckchen, die ihr bis zum Kinn reichten, umgaben ihren Kopf. Brooke selbst besaß glatte Haare und diese flossen ihr etwa eine Daumenlänge über die Schultern. „Hey Brooke. Habe ich dich geweckt?" „Nein, nein.", beruhigte Brooke ihre Nachbarin. „Ich habe noch nicht geschlafen."
„Da bin ich aber erleichtert." Fallon warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Es wäre aber möglich. Immerhin ist es schon kurz nach Mitternacht." „Stimmt." Nervös strich Brooke sich eine kastanienbraune Strähne aus der Stirn. „Also.", setzte Fallon an. „Ich mache es kurz. Hast du vielleicht Salz da?" „Klar." Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging in ihre Wohnung zurück. „Danke!", rief ihre Nachbarin ihr hinterher und unerwartet musste Brooke schmunzeln.
Seit fünf Monaten lebte sie bereits hier und Fallon war die erste Person gewesen, die sie damals bei ihrem Einzug kennengelernt hatte. „Du bist wirklich die Beste. Vielen Dank.", bedankte sich Fallon wenig später noch einmal, während Brooke ihr den Salzstreuer reichte. Kurz streiften Fallons Finger die ihrigen und Brookes Herz machte einen Hüpfer. Rasch zog sie ihre Hand zurück.
„Alles in Ordnung?", wollte Fallon wissen. „Ja klar. Warum fragst du?" „Du siehst blass aus." „Wirklich?" „Ja." Besorgt zog Fallon die Stirn in Falten. „Wir kennen uns jetzt schon eine Weile und du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst." Brooke nickte und für eine Millisekunde haderte sie mit dem Gedanken Fallon mit der Wahrheit zu konfrontieren.
„Es ist wirklich nichts." „Okay. Dann nehme ich das mal so hin." So richtig überzeugt sah Fallon nicht aus, jedoch schien sie sich mit Brookes Antwort zufrieden zu geben. „Gut. Ich gehe dann mal wieder. Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr gestört." Ihre Nachbarin war im Begriff, sich umzudrehen. „Du hast mich nicht gestört. Das tust du nie, im Gegenteil." Ein Lächeln tanzte um Fallons Mundwinkel und Brooke spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Diese Worte waren einfach so aus ihr herausgeplatzt. „Das ist nett von dir, Brooke. "Schlaf schön." Mit diesen Worten verschwand Fallon in ihrer Wohnung, welche sich direkt gegenüber befand.

13 September 2012
Kalt blies der Wind durch das offene Fenster und ließ Brookes Haare tanzen. Sie strich mit dem Finger über das Foto, welches sie in den Händen hielt. Es zeigte eine Birke, umgeben von hüfthohem Gras. Dort, genau an diesem Ort, hatte Brooke als Kind gemeinsam mit ihren Geschwistern die schönsten Stunden ihres Lebens verbracht. Bibury, in diesem Dorf war sie geboren, aufgewachsen und ebenda hatte sie ihr restliches Lebens verbringen wollen. Eine Wunschvorstellung, wie sie an einem kalten Dezemberabend kurz vor Weihnachten feststellen musste.
Keine drei Häuser von ihrem Familienhaus entfernt, ermordete Brooke damals eine vierundsiebzigjährige Rentnerin. Das Motiv? Der jungen Frau traten die Tränen in die Augen. Sie wusste es nicht, bis heute war ihr nicht klar was sie dazu gebracht hatte diese schrecklichen Taten zu begehen, denn die Ermordung der Pensionärin war erst der Anfang.
Brooke floh aus Bibury, ließ ihre Familie im Stich. Italien, Spanien,die Türkei, Norwegen, Polen und zu guter Letzt eben wieder ihr Heimatland. Hier in London hatte Brooke gehofft, dass der ganze Spuk endlich ein Ende nehmen würde. Vergebens. Gestern hatte ein weiterer Mensch dran glauben müssen. Eine junge Frau, blonde Haare, grüne Augen. Brooke wischte diesen Gedanken wütend zur Seite, als wäre er nur ein harmloser Fleck auf der Küchentheke. Sich in ihrem Schlafzimmer auf die schneeweise Bettdecke legen und einfach nichts tun, das war das, was Brooke tat, jedes Mal wenn eine Person ihretwegen das Zeitliche segnete.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Heute noch musste sie ihre Wohnung kündigen. Brookes nächstes Ziel: China. Weit weg von England. Es klingelte. Instinktiv hoffte Brooke, dass Fallon abermals vor ihrer Tür stand, diesen Anlass konnte sie somit gleich nutzen, um sich von ihrer Nachbarin zu verabschieden. „Tut mir leid, dass ich dich so früh am Morgen schon wieder belästige.", begrüßte Fallon sie wenig später. „Kein Problem." Brooke lächelte. „Brauchst du noch mehr Salz?" „Nein,nein.", lachte Fallon und trat einen Schritt näher. „Ich....wollte dich fragen, ob du heute Abend etwas vor hast?" „Was?" Irritiert kratzte Brooke sich am Hinterkopf. Wollte Fallon mit ihr ausgehen?
„Keine Angst, Brooke. Diese Frage stelle ich dir rein freundschaftlich. Ich wollte eine Party am Hafen besuchen und fragen, ob du nicht Lust hast mitzukommen?" „Achso." Brooke spürte, wie sich die Enttäuschung in ihr breit machte. Ihre Nachbarin war nett, keine Frage, jedoch fühlte sie sich seit ein paar Wochen so unglaublich zu Fallon hingezogen. Und Brooke wusste, dass es sich dabei nicht um die anfängliche Sympathie gegenüber dieser Frau handelte. „Brooke?" „Hm?" „ Was sagst du zu meinem Vorschlag?" „Ich weiß nicht." „Komm schon.", bettelte Fallon. „Ich möchte nicht ganz alleine dorthin gehen und zu zweit macht es doch gleich viel mehr Spaß."




Und sie atmete - Eine Frau die ungewollt tötetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt