„Verdammt!"
„Was machen wir jetzt?", fragte Holly ihre beste Freundin mit atemloser Stimme. Das Zittern darin versuchte sie durch ihre verkrampften Kiefer abzumildern.
„Keine Ahnung! Unsere Eltern können wir nicht anrufen", erwiderte diese leicht gehetzt.
„Irgendwelche Bekannte?"
„Nein, die Jungs, die ich kenne, sind kaum älter als wir und würden denen keine Angst einjagen. Die würden sie auch nur auslachen. Wie konnte das nur passieren?!" Amanda schnaubte frustriert.
Es hätte ein netter Abend in einem Club sein sollen. Amanda kannte den Türsteher und sie waren, obwohl sie erst 17 waren, hinein gekommen. Sie hatten ihren Spaß gehabt und alles war entspannt gewesen — bis ein paar aufdringliche Typen zu ihnen gekommen waren und sie nun nicht mehr gehen lassen wollten. Die beiden hatten sich auf der Toilette versteckt und würden von hier aus nirgendwo hin gelangen, ohne erneut an diesen Typen vorbei zu müssen.
Die Mädchen sahen sich an.
„Ich hätte eine Lösung", sagte Holly plötzlich langsam und biss sich auf die Unterlippe. „Ob sie dir gefällt, bezweifle ich allerdings", fügte sie noch hinzu, holte ihr Smartphone heraus und tippte aus dem Kopf eine Nummer ein.
„Wen rufst du an?", fragte ihre Freundin angespannt.
„Mr. Blair." Holly sah mit geweiteten Augen zu ihr auf, als würde sie erst jetzt realisieren, was sie da gerade im Begriff war zu tun.
„Was?! Woher hast du überhaupt seine Nummer?", brauste Amanda kurz auf, dann seufzte sie und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Meinst du, er hilft uns?"
Holly zuckte mit den Schultern und ihr Finger schwebte über dem Hörersymbol. Dann reagierte auch schon das Display, ehe sie es ganz berührt hatte und sie hielt sich das Handy erschrocken ans Ohr.
Es klingelte drei Mal, dann nahm er ab.
„Blair." Seine ruhige, dunkle Stimme sickerte durch ihren Körper und die Unruhe der letzten Minuten nahm etwas ab. Sie konnte wieder freier atmen.
„Mr. Blair? Hier ist Holly aus dem Literaturkurs", sagte sie schnell und ihr Atem ging aufgrund der Aufregung wieder etwas flacher und schneller.
„Holly, ist alles in Ordnung?", fragte er. Seine Stimme klang nun nicht mehr abwesend, sondern konzentriert und leicht angespannt.
„Ähm ... also, wir haben ein Problem und ich hoffe, Sie können uns helfen." Sie kniff kurz die Augen zusammen, während sie sprach.
„Worum geht es?" Sie hörte leise Kleidung rascheln. Er schien aufgestanden zu sein.
„Wir sind in einem Club und da sind ein paar Typen, die uns nicht in Ruhe lassen. Wir kommen hier nicht raus", erklärte sie und ihre Stimme brach bei den letzten Worten.
Sie sah Amanda an, die ihre Hand gegriffen hatte und sie gespannt ansah.
„Wo genau seid ihr? Ist Amanda bei dir?" Es klang, als würde er sich durch einen Raum bewegen.
„Ja, sie ist bei mir." Dann nannte sie ihm den Namen des Clubs.
„Bleibt, wo ihr seid. Ich melde mich, sobald ich da bin."
„Danke." Holly legte auf und atmete durch, sah Amanda an. „Er kommt her." Die Worte lösten ein wenig den Druck in ihr und sie atmete wieder etwas ruhiger.
„Ich weiß noch nicht, ob mir das gefällt oder ob ich meine Note in Literatur für immer versaut habe", seufzte Amanda teilweise erleichtert.
„Das ist ein Problem für später und das Schuljahr ist doch bald vorbei. Hauptsache, wir kommen hier weg", erwiderte Holly und schloss für einen Moment die Augen, um tief durchzuatmen.
Keine zehn Minuten später klingelte ihr Handy und Holly ging ran. „Ja?" Ihre Stimme zitterte leicht. Es wurde ihr alles zu viel und sie kratzte bereits die ganze Zeit am Rande einer Atemnot.
„Ich bin da", hörte sie seine Stimme und die Worte klangen wie die Aufhebung eines Bannspruchs. „Wo seid ihr genau?"
„Wir kommen zum Ausgang." Sie sagte es, ehe sie genauer darüber nachdenken konnte und legte auf. Sie musste hier raus.
„Holly, war das eine gute Idee?", fragte Amanda, doch diese schüttelte nur den Kopf und ging zur Tür.
Gemeinsam betraten sie wieder den Club, der in laute Musik, schlechte Gerüche und schummriges Licht getaucht war. Entschlossen strebten sie auf den Ausgang zu und Holly zog Amanda schon fast mit sich. Sie wollte einfach nur noch hier raus.
Ihre Augen waren nach vorn gerichtet und da sah sie ihn. Mr. Blair war groß und er überragte die meisten Besucher. Er ließ seinen Blick suchend schweifen.
„Da seid ihr ja wieder!" Eine unangenehme Stimme übertönte die Musik und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ihre unmittelbare Umgebung. Die vier Typen von vorhin kreisten sie ein. Amanda drückte sich an sie und Holly atmete nur noch in kurzen abgehackten Zügen.
Bevor einer der vier reagieren konnte, riss sie den Arm hoch und nutzte das Licht ihres Smartphones, um auf sich aufmerksam zu machen. Dunkle Augen fixierten sie und sie wurde im gleichen Moment von einem der Typen am Arm gepackt und herum gewirbelt. Sie verstand nicht, was er sagte, das Rauschen in ihren Ohren und das Dröhnen der Musik waren zu laut. Sie konnte sich kaum auf das Gesicht ihres Gegenübers konzentrieren.
Im nächsten Moment sah sie im Augenwinkel, wie die Hand von ihrem Arm mit absolut kalkulierter Gewalt fortgerissen wurde und sie spürte die Wärme eines Körpers dicht hinter sich. Holly riss sich zusammen, um sich nicht einfach gegen ihn zu lehnen und nur für einen Augenblick dieser Hölle zu entkommen.
Mr. Blair besaß eine Aura, die jeden erst einmal einen halben Schritt zurückweichen ließ und diese spielte er nun aus. Seine Hand wanderte zu ihrem Arm und legte sich sanft auf die Stelle, an der sie gerade noch festgehalten wurde, so als wollte er damit den fast schon gewalttätigen Akt ungeschehen machen. „Die Damen möchten gehen", sagte er in die Runde und durchdrang den Lärm mit seiner Stimme, die im Moment angespannt klang. Sie war ihm so nahe, dass sie die Vibrationen in seiner Brust spürte.
Die Typen waren sichtlich beeindruckt und zogen murrend ab.
Holly atmete zitternd aus und drehte sich langsam zu ihm. Sie war ihm so nah, dass sie den Kopf etwas in den Nacken legen musste, um zu aufsehen zu können. Sein Blick lag auf ihr und er runzelte die Stirn, als er sah, wie sie zitterte und nur schwer Luft bekam. „Gehen wir", sagte er bestimmt und die Hand von ihrem Arm wanderte auf ihren Rücken, um sie zum Ausgang zu dirigieren. Die Wärme seiner Haut brannte sich durch die kalte Angst in ihr. Amanda lief neben ihr und hielt ihre Hand fest.
Draußen atmete Holly tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Er sollte sie nicht so sehen! Amanda nahm sie in den Arm und sie versteckte ihr Gesicht in ihren Haaren.
„Danke, Mr. Blair", sagte Amanda und sah zu ihm auf. Er sah noch immer Holly an, die Augenbrauen leicht zusammengezogen, als wäre das Bild, das sich ihm bot, unstimmig. Dann blinzelte er und sah Amanda in die Augen.
„Wie kommt ihr nach Hause?"
„Taxi?", sagte sie und es klang viel mehr wie eine Frage.
Er fuhr sich durch das kurze dunkle Haar, das jedoch genug Länge besaß, um hinein zu greifen. „Kommt mit. Ich fahre euch."
Holly löste sich von Amanda, hielt den Kopf jedoch gesenkt, damit er die Tränen nicht sah, die nun stumm über ihre Wangen liefen. Ihr Atem hatte sich wieder etwas beruhigt, auch wenn sie noch immer kaum Luft bekam.
Sie folgten ihm zu einem schwarzen SUV. Holly stieg auf der Beifahrerseite ein.
Als Mr. Blair eingestiegen war, sah er sie an. „Eure Adressen?" Holly hoffte, dass die schwache Beleuchtung des Displays im Auto ihre Tränen nicht allzu deutlich zeigte.
„Wir schlafen bei Holly", kam Amanda ihr zur Hilfe, da sie keinen Ton herausbrachte, und nannte die Adresse.
Er sah Holly noch einmal an, dann schnallte er sich an und fuhr los.
Die Musik aus den Lautsprechern, das leise Motorengeräusch und allein seine Anwesenheit beruhigten Holly innerhalb weniger Minuten soweit, dass sie wieder besser atmen konnte. Sie hatte die Augen geschlossen, um sich auf ihre Atmung konzentrieren zu können und öffnete diese nun wieder.
Sie standen an einer roten Ampel und das grelle Licht schien in den Wagen. Sie sah zu Mr. Blair hinüber und bemerkte, dass er sie ansah. Sein Kopf war zu ihr gedreht und seine volle Aufmerksamkeit lag auf ihr. Eine Hälfte seines Gesichts war in dieses grelle, rote Licht getaucht, die andere Hälfte lag im Schatten.
Er sagte nichts, es lag kein verärgerter Ausdruck auf seinem Gesicht. Er sah sie einfach nur an und schien etwas ergründen zu wollen, das er nur in ihrem Anblick zu finden glaubte.
Holly konnte den Blick nicht abwenden. Seine dunklen Augen hielten sie gefangen, bis die Ampel auf Grün sprang und er den Blick nach vorn richtete, ehe er losfuhr.
Sie bemerkte, dass er ein ruhiger Fahrer war. Er fuhr mit Bedacht und vorausschauend. Nicht einmal heulte der Motor auf, wenn er beschleunigte. Vielleicht lag es auch am Auto, denn es schien mehr als genug Leistung zu besitzen — eigentlich versuchte sie sich nur davon abzulenken, wie er sie gerade angesehen hatte.
Holly wischte sich über die Wangen, um die Tränenspuren zu entfernen und atmete leise durch. Dabei bemerkte sie seinen Geruch, der in diesem — seinem — Wagen allgegenwärtig war. Sie kannte seinen Duft, oft genug war er im Kurs nahe an ihr vorbei gelaufen oder neben ihr stehen geblieben, wenn sie ihm eine Frage stellte. Sie mochte ihn, nicht aufdringlich oder provokant männlich, irgendetwas dezentes.
Die Fahrt dauerte knappe fünfzehn Minuten, in denen niemand ein Wort sprach, doch die Stille war nicht unangenehm. Es war die erschöpfende Stille nach einer knapp gewonnenen Schlacht, so fühlte es sich zumindest für Holly an.
Vor dem Haus hielt er an der Straße an und sah Holly noch einmal an. Dabei blieben seine Augenbrauen entspannt.
„Wir reden am Montag darüber. Gute Nacht", sagte er in die Stille hinein.
„Gute Nacht, Mr. Blair",erwiderte Holly leise, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Danke", schob sie noch hinterher, ehe sie aus dem Wagen stieg.
Gemeinsam mit Amanda huschten sie zur Haustür und erst als sie diese geöffnet hatte, hörte sie, wie Mr. Blair davonfuhr.
„Das wird Ärger geben", stöhnte Am und ließ sich etwas später neben ihr ins Bett fallen.
„Das werden wir sehen", murmelte Holly im Halbschlaf.
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Sound and Poetry
RomanceHolly liebte die Literatur, verlor sich allzu gern zwischen den Seiten eines Buches. Dass diese Liebe sich auch auf ihren Lehrer für Literatur ausweiten würde - damit hätte sie niemals gerechnet. Ethan hatte nicht nach Liebe gesucht. Und dann saß pl...