Es war erneut eine Woche vergangen, das Mal an ihrem Hals war verblasst und nur noch ein Hauch erinnerte sie daran, dass die Lippen ihres Lehrers dort auf ihrer Haut gelegen hatten. Bei der Erinnerung daran überlief sie noch immer ein kleiner Schauer. Nein! Sie sollte nicht mehr daran denken. Es waren bald Sommerferien und dann hatte sie genug Zeit, um gedanklich Abstand zu nehmen.
Trotzdem konnte sie es nicht lassen, nach dem Unterricht zu ihm zu gehen und ihn nach Zusatzmaterial zu fragen. Alle Noten waren vergeben und sie bereiteten bereits das nächste Jahr vor, daher war sie nicht weniger von dem Thema gebannt als sonst. Er war freundlich, aber etwas distanzierter als sonst zu ihr — hatte er vielleicht die Befürchtung, sie würde sich mehr Gedanken um die Situation machen? Sich irgendwelchen Kleinmädchen-Träumen hingeben und denken, ihr Lehrer würde mehr in ihr sehen, als die Schülerin? Irgendwie stand diese Situation wie ein riesiger rosa Elefant zwischen ihnen im Raum und sie versuchten, um diesen herum miteinander auszukommen. Es fiel während der Stunden nicht auf, doch danach kam kein Gespräch in dem Maße zustande, wie es sonst der Fall war.
Nach dieser Stunde ging sie zu ihm nach vorn und wartete, bis sie allein waren. Dann sah sie ihm in die Augen, die sie nun abwartend, fragend ansahen.
Er wunderte sich nicht, dass Holly nach der Stunde an seinem Pult stand, doch heute sah sie unruhiger aus, zupfte an ihren Fingern und wirkte nervös.
„Was ist los, Holly?" Er lehnte sich gegen das Pult, sodass er ihr gegenüber stand.
Sie zuckte ein wenig zusammen, da er genau ins Schwarze getroffen zu haben schien.
„Also ... ich", stammelte sie leise, dann unterbrach sie sich, atmete durch und straffte ein wenig die Schultern. „Wegen der Sache vor einer Woche."
Er schluckte. Nahm sie es ihm nun doch übel? Er hatte sich bewusst etwas von ihr distanziert, um ihr nicht das Gefühl zu geben, er würde sie bedrängen.
„Sie können aufhören, sich anders zu verhalten als sonst", überraschte sie ihn dann und er blinzelte kurz, ehe er sich wieder fing. „Sie haben mir in dem Moment geholfen und ich messe dem keine weitere Bedeutung bei, falls das Ihre Befürchtung sein sollte. Ich darf nun zwar sagen, dass ich den ersten Knutschfleck von meinem Literaturlehrer bekommen habe, aber ansonsten werde ich diese Situation nicht mehr erwähnen." Sie sah ihn an, hoffte, die richtigen Worte gefunden zu haben.
Mr. Blair sah sie an, wirkte ein wenig erleichtert, soweit sie es deuten konnte und nickte dann. „Danke, Holly. Ich wusste nicht, ob das zwischen uns stehen würde oder nicht." Er hielt ihren Blick fest, suchte darin nach etwas, fand es jedoch nicht und war erleichtert darüber. „Also, wie hat dir das Thema gefallen?", wechselte er das Thema übergangslos und sein Mundwinkel verzog sich zu einem Schmunzeln. Sie kehrten auf altbekanntes, sicheres Terrain zurück.
Sie war erleichtert, dass dieser Elefant aus dem Raum war und schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Hätten sie noch ein wenig weiterführendes Material? Dieser Textausschnitt war ja ganz nett, aber ... Sie wissen, was ich meine", erwiderte sie und schon war alles wie immer. Auch, dass sie den Großteil der Mittagspause versäumten, da sie sich in eine kleine Diskussion verstrickten.
Mr. Blair sah schließlich auf die Uhr und seufzte leise. „Du solltest gehen, wenn du noch etwas essen möchtest. Die Pause ist bald vorbei — wir setzen das an anderer Stelle fort, schließlich muss ich dich noch von meiner Theorie überzeugen", sagte er amüsiert.
„Mit dem nötigen Zusatzmaterial werde ich Sie ganz bestimmt von meiner Theorie überzeugen können", konterte sie ein wenig übermütig. Wie hatte sie es vermisst, so mit ihm reden zu können! Die letzte Woche war dahingehend wirklich seltsam gewesen.
„Bis Morgen, Mr. Blair", verabschiedete sie sich mit einem Lächeln.
Er schenkte ihr ebenfalls eines seiner seltenen Lächeln. „Bis Morgen, Holly."
Sie ging aus dem Raum und er ließ den Kopf in den Nacken fallen, schloss kurz die Augen, ehe sich ein Grinsen auf sein Gesicht schlich. Sie hatte sich getraut, es anzusprechen und er war ihr dankbar dafür. Nun hatte er seine Lieblingsschülerin wieder.
Deutlich besser gelaunt räumte er alles zusammen, notierte sich, welches Material er ihr mitbringen würde und verließ den Raum. Er bemerkte kaum, dass seine Finger den Takt eines Liedes auf dem Riemen seiner Umhängetasche trommelten, das plötzlich in seinem Kopf umher spukte.
DU LIEST GERADE
Sound and Poetry
RomanceHolly liebte die Literatur, verlor sich allzu gern zwischen den Seiten eines Buches. Dass diese Liebe sich auch auf ihren Lehrer für Literatur ausweiten würde - damit hätte sie niemals gerechnet. Ethan hatte nicht nach Liebe gesucht. Und dann saß pl...