Wie versprochen wartete Henry schon auf dem Bahnsteig von Roms Hauptbahnhof auf mich.
Kurz hatte ich überlegt, einfach in das hinterste Zugabteil zu laufen und dort auszusteigen, um ihm entwischen zu können. Allerdings hatte ich in der letzten Stunde zumindest eingesehen, dass es wirklich sehr unklug wäre, uns in so einer großen Stadt wie Rom zu trennen. Immerhin müsste ich ihn nur noch bis zum Hotel aushalten und ab dann konnten wir endlich ohne Sicherheitsrisiken getrennte Wege gehen.
„Ich setze mich nur unter einer Bedingung mit dir ins selbe Taxi", begrüßte ich ihn reserviert. Eine Stunde konnte seine Tücke nun mal nicht weniger schmerzhaft machen. Henry nickte. „Kein Wort, das nicht lebensnotwendig ist. Ich brauche erst mal Zeit für mich und ich habe gerade keine Nerven für eine weitere Diskussion, die höchstwahrscheinlich nur ins Leere führen wird."
Wieder nickte er und schien sogar erleichtert, dass ich ihn weder anschnauzte noch auf getrennte Wege bestand. Schweigend begaben wir uns zum Taxistand, wo wir auch sofort ein freies Taxi erwischten. Zu meinem Glück war der Fahrer relativ jung – vielleicht Mitte dreißig – und nicht sehr gesprächig, sodass die Fahrt abgesehen von dem kleinen Smalltalk am Anfang und am Ende der Strecke schweigend verlief. Nur das Radio und der turbulente Straßenverkehr füllten die Stille im Wagen.
Während ich in der letzten Stunde auf meinem alleinigen Platz im Zug meine Verbitterung gut unter Kontrolle gehabt hatte, so spürte ich sie auf der Taxifahrt immer mehr an die Oberfläche kommen. Es war Henrys Nähe, die mich so aufwühlte. Im Zug hatte ich ihn nicht gesehen und er mich nicht, doch neben ihm baute ich unwillkürlich eine Mauer zwischen uns auf. Ausgerechnet zwischen mir und dem Jungen, in den ich mich in den letzten Tagen verliebt hatte. Ich wollte ihm nicht zeigen, wie ich über die Situation dachte und fühlte, wollte ihm nur zu Verstehen geben, dass es scheiße von ihm war. Aber diese Mauer war schwer und jeder Stein, den ich auf den anderen legte, machte mir das Herz schwer.
Es war komisch jemandem körperlich so nah, doch seelisch so weit entfernt zu sein.
Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen und ich blinzelte ein paar Mal. Die römische Stadt zog nur an meinem Fenster vorbei und ich versuchte, mich auf den Ausblick zu konzentrieren, aber entgegen meiner Vorfreude auf diese Stadt konnte ich nichts davon genießen. Ich hatte mir die Ankunft definitiv anders vorgestellt. Auch wenn die Sonne strahlte, kam mir die Welt stark bewölkt vor.
Das Taxi hielt vor einem schmalen Stadthaus, das genauso aussah wie ich mir ein Drei-Sterne-Hotel in Italien vorstellte: bröckeliger Putz an der Fassade, an den Holzfensterläden blätterte die verblasste Farbe ab und Kabelleitungen verliefen gemütlich an den Fassaden des gesamten Blocks entlang. Nichts Außergewöhnliches.
Henry sprach mit dem Taxifahrer und bestand darauf, die Fahrt komplett auf sich zu nehmen. Ich bedankte mich knapp und stieg aus, während er bezahlte. Vor dem Eingang des Hotels blieb ich stehen und schaute mir das Hotelschild darüber an. Selbst einer der aufgehängten Buchstaben hing schief und drohte bald herunterzufallen, doch das kümmerte mich nicht.
Endlich waren wir nach sechs langen Tagen in Rom. Jetzt, wo ich hier stand, konnte ich kaum glauben, was in den letzten Tagen alles passiert war und es kam mir vor wie ein langer Traum, aus dem ich erwacht war.
Als ich hörte, wie Henry nun ebenfalls ausstieg und die Autotür zuschlug, setzte ich mich in Bewegung und betrat die Eingangshalle. Wie zu erwarten war auch diese nicht besonders aufregend gestaltet. Die Lobby bestand aus klassischen Ledersesseln und weiteren einfachen Möbeln. Auf einem Dreiersofa hatten sich drei Jugendliche niedergelassen und starrten auf ihr Smartphone. Jedoch kannte ich keinen von ihnen, weshalb unsere gesamte Klasse wohl unterwegs war.
Der Rezeptionist winkte uns an den Tresen und da ich zu müde für Erklärungen war, übernahm Henry das Gespräch auf Italienisch. Offenbar erkannte er uns dann auch sofort und nachdem wir unsere Ausweise vorgezeigt hatten, übergab er uns auch jeweils ein Schlüsselkarte für unsere Zimmer. Bevor er uns einen angenehmen Tag wünschte, fragte er Henry noch etwas, welcher daraufhin nickte, und griff nach dem Telefon.
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Alle Wege führen nach Rom
Jugendliteratur*ABGESCHLOSSEN* „Willst du nicht hierher kommen?", ertönte Henrys Stimme. Ich drehte mich zu ihm um und entdeckte ihn am Mittelgang, wo er auf zwei freie Plätze direkt nebeneinander deutete. Ich zog beide Augenbrauen nach oben. „Das Pensum deiner l...