2. Der letzte Schultag

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Jeder hatte doch diesen einen Mitschüler in seiner Stufe, der glaubte, lustig wie Mario Barth zu sein und sich aufführte, als hätte er seinen Job beim Zirkus verloren.

In meiner Stufe hieß der Clown Henry Falkner.

Ich gab es nicht gerne zu, aber seine humorvolle und lockere Art, mit Dingen umzugehen, machte ihn noch attraktiver als er mit seinen braunen, kurzen, lockigen Haaren, der schmalen Nase und dem markanten Kinn ohnehin schon war. Aber am beeindruckendsten waren seine sanftgrauen Augen mit den silbernen Sprenkeln. Zugegeben, ich war schon ein wenig neidisch auf seine Augen, denn dagegen waren meine nachtblauen Augen vollkommen langweilig – und eigentlich mochte ich meine Augen.

Dass ich Henry durchaus für gutaussehend empfand, würde ich ihm gegenüber allerdings erst zugeben, wenn ich Bundeskanzlerin werden würde.

Also gar nicht. Ich verstand nicht einmal den Prozess zur Gesetzgebung. (Als ich noch von Sozialwissenschaften im Stundenplan belästigt worden war, hatte ich lieber Käsekästchen mit Lizzy gespielt als zuzuhören.)

Ich sah nicht ein, Henrys ohnehin schon viel zu großes Ego mit noch mehr Süßigkeiten zu füttern. Wenn ich ihm meine Meinung sagte, dann kam ich nicht umhin, mit reichlich Sarkasmus klarzustellen, wie sehr er mir auf die Nerven ging, denn das konnte er mit seinen arroganten Sprüchen, dämlichen Witzen im Unterricht und seiner bloßen Anwesenheit ganz gut.

Von Weitem sah ich den Pflaumenaugust schon grinsend zur Sporthalle schlendern, wo wir beide unsere Schulwoche mit einer Doppelstunde Sport starteten.

Wissend, was jetzt mal wieder kommen würde, verdrehte ich genervt die Augen. Jeden Montagmorgen das gleiche dämliche Theater. Das machte er nämlich liebend gerne, um mich zur Weißglut zu bringen und ich war sogar fest davon überzeugt, dass er damit meistens nur Erfolg hatte, weil er sich mit dem Teufel verbunden hatte.

Und sicher war es genau dieses Wesen der dunklen Macht gewesen, das ihm dazu geraten hatte, mich mit diesem überaus hirnamputierten, grässlichen Kosenamen zu taufen.

„Hey, mein kleiner Fruchtzwerg ist ja auch schon da", begrüßte er mich, sobald er bei mir angekommen war. „Das vertreibt mir gleich die Grillen."

Mittlerweile ignorierte ich ihn einfach, wenn er mich so nannte. Die ersten paar Male habe ich verdrossen mit ihm zu diskutieren versucht, allerdings gab es nichts, das ihn davon abhalten ließ, mich seinen kleinen Fruchtzwerg zu nennen. Dabei hatte es ihn nicht gestört, dass ich zwischendurch auch zum Giftzwerg geworden war, im Gegenteil: Frustriert hatte ich feststellen müssen, dass ich damit nur meinen unfreiwilligen Unterhaltungswert steigerte.

Der Ursprung dieses Kosenamens war auf eine Begegnung im Supermarkt zurückzuführen. Während ich damals fürs Wochenende einkaufte und unter anderem ein paar Naschereien für meine kleine Cousine, die übers Wochenende zu uns gekommen war, in den Einkaufswagen geworfen hatte, hatte mich Lizzy sogar begleitet. Bei dem Regal mit den Fruchtzwergen blieben wir stehen und plötzlich überkamen uns Kindheitserinnerungen. Lizzy deutete auf die Kinderjoghurts und sofort schwärmte ich von dem selbst gemachten Eis, wenn wir die Fruchtzwerge mit einem beigefügten Plastikstiel ins Tiefkühlfach gelegt hatten.

Und in genau dem Moment, in dem ich, vollkommen von meiner Idee entzückt, vorschlug, diese Kindheitsmomente nochmal zu durchleben, lief Henry uns über den Weg. Natürlich war ihm meine kindliche Euphorie nicht entgangen und seitdem zog er mich ständig mit diesem beschissenen Kosenamen auf.

Ich hasste Fruchtzwerge mittlerweile. Immer wenn ich am Kühlregal im Supermarkt vorbeilief, warf ich dem Teufelsfraß einen bitterbösen Blick zu, als wären die Kinderlieblinge an dem ganzen Schlamassel Schuld und nicht meine kindische Ader.

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