50. Gilt die Wette noch?

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Als ich vor Henrys Elternhaus stand, wurde mir mal wieder bewusst, dass seine Eltern beide nicht gerade wenig verdienten. Meine Eltern waren zwar auch alles andere als arm, aber in Augsburg hatte Papa eine nette Drei-Zimmer-Loft-Wohnung günstig über einen befreundeten Immobilienmakler ergattert und Mama, Anna und ich wohnten in einer netten Doppelhaushälfte am Rande von Hannover; aber Holla die Waldfee war das Ding vor mir überwältigend!

Es war keine klassische moderne Vorstadtvilla mit imposanter Eingangssituation, riesigen Panoramafenstern und pikfein gepflegtem Vorgarten, aber groß war es auf jeden Fall. Ich hatte nicht viel Ahnung von Architektur, aber vor mir stand eine große alte Scheune, die saniert, modernisiert und an der Giebelseite mit einem Holzbau erweitert worden war. Die alten Natursteinmauern standen im perfekten Kontrast zu den leichten, lang gezogenen Fenstern, die zur Straßenseite hin zwar offen wirkten, aber dennoch nicht viel Einblick in das Gebäudeinnere gewährten. Der hölzerne Anbau ging leicht in die neu wirkenden Dachziegel und das alte Mauerwerk über, als würde er dort aus der Scheune wachsen.

Der Vorgarten war mit verschiedenen Sträuchern und Wildblumen natürlich gestaltet und ich kam einfach nicht mehr aus dem Staunen heraus, als ich über den Natursteinweg auf die große, rundbogenförmige Massivholztür zuging, wo ein hübscher Messingring mit Löwenkopf dem idyllischen Bild den letzten Schliff verlieh.

Mein Finger schwebte schon (leicht zitternd wohlbemerkt) über dem Klingelknopf, als ich es mir anders überlegte und mit dem Ring vorsichtig an die Tür klopfte. Das hatte ich schon immer mal machen wollen!

Kaum hatte ich den Messingring wieder losgelassen, gefror mir das Blut in den Adern. Was ist, wenn die Familie Falkner das gar nicht wollte, weil die Haustür dadurch Macken bekommen würde? Hörte man das überhaupt?

O Gott, was war nur los mit mir? Jeder normale Mensch klingelte!

Vielleicht hätte ich Henry doch schreiben sollen. Seine Nummer hätte ich aus der Klassenfahrtgruppe nehmen können, allerdings hatte ich sie nicht eingespeichert, weil bei meinen Nicht-Kontakten entweder komische Spitznamen oder Initialen neben den Nummern gestanden hatten oder gar nichts. Bei den Profilbildern sah es ähnlich aus: Entweder es war keines vorhanden oder ein Urlaubsbild ohne Person und falls doch eine drauf zu sehen war, dann ganz klein und von hinten.

Also hatte ich in meinem Gedächtnis gekramt und nach drei Google-Versuchen die Sofia-Kowalewskaja-Straße gefunden. Dass er in einer ganz seltsamen benannten Straße wohnte, hatte ich mir merken können. Die Details hatte ich allerdings sofort wieder vergessen, als ich ihm den Personalausweis in Nizza beim Postkartenverfassen zurückgegeben hatte.

Nachdem ich nämlich auch mit Mama und Anna stundenlang alle Erlebnisse bis ins kleinste Detail hatte durchkauen müssen, hatten auch die beiden mich nicht in Ruhe gelassen, ehe ich auch ihnen Henrys und meine Was-auch-immer-Beziehung offenbarte. Natürlich nicht wirklich freiwillig, denn sie hatten mich direkt ins Kreuzverhör genommen, als ich mich hatte in mein Zimmer verdünnisieren wollen, um in Ruhe meine Taschen auszupacken. Da ich das Thema damit dann dicke hatte, hatte ich beschlossen, nach dem Abendessen aufzubrechen und unsere Beziehung wieder ins Lot zu bringen. Ich konnte und wollte mir nicht von noch mehr Leuten die gleichen Meinungen und Ratschläge abholen, denn ich hatte es mittlerweile verstanden, dass ich nicht ganz unschuldig war.

Nun stand ich hier vor Henrys schickem Heim, hinter dessen Massivholztür wohl die ganzen selbstgebauten und selbstgestalteten Möbelstücke von ihm standen. Ob er mir gleich direkt welche zeigte?

Plötzlich wurde die Tür vor mir geöffnet und ich damit aus meiner kleinen Träumerei über Upcycling-Möbel gerissen.

„Hallo, kann ich Ihnen helfen?", begrüßte mich eine große, schlanke Frau mittleren Alters. Sie hatte ihre braunen Haare locker hochgesteckt, was ihre hohen Wangenknochen betonte, sie aber überhaupt nicht streng wirken ließ. Anders als Henry hatte sie keine grauen, sondern hellgrüne Augen. Das musste dann wohl Henrys Mutter sein.

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