5. Ein heilloses Durcheinander

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„Was ist denn hier los?"

Wenn die Situation nicht so ernst wäre, hätte ich sie vielleicht genossen, weil es das erste Mal war, dass ich Henry ohne dämliches Grinsen erlebte. Stattdessen hatte sich eine kleine Sorgenfalte auf seiner Stirn gebildet. Seine ganze Körperhaltung strahlte zum ersten Mal Seriosität aus und beinahe hätte ich ihn sogar als anziehend bezeichnet.

Bevor er mein erstauntes Starren bemerkte, lugte ich neugierig hinter seinem breiten Rücken hervor, um zu schauen, was für ein Tumult plötzlich ausgebrochen war.

Eine junge Frau stand mit dem Rücken zu uns und hatte sich  nach vorne gebeugt, dabei stützte sie sich mit der einen Hand am Verkaufstresen ab, mit der anderen hielt sie sich den Bauch.

Instinktiv versteckte ich mich hinter Henrys Rücken und betete, dass wir nicht in einen Terroranschlag geraten waren. Aber einen Schuss hätten wir doch gehört, solange es keine Waffe mit Schalldämpfer war, es sei denn die Verletzung wäre durch ein Messer entstanden...

O Gott, was wäre, wenn wir die nächsten waren?

Ohne meine Taten vorher mit meinem Verstand abzusprechen, griff ich panisch nach Henrys Handgelenk und versuchte, ihn mit mir aus dem Laden zu ziehen. Gleichzeitig kam eine Flughafendurchsage, die ich kaum verstand – zum einen nuschelte die Flughafenmitarbeiterin und zum anderen riefen zu viele Menschen aufgeregt nach einem Arzt und nach Security, weshalb ich mich vor Angst nicht für die Durchsage interessierte.

„Mach mal halblang, Fruchtzwergchen", rief der Quälgeist hinter mir und blieb stehen. Da er um einiges stärker war als ich, blieb ich sogleich auch stehen. „Willst du die Bücher klauen und bist deswegen so in Eile?"

Wütend wirbelte ich zu ihm herum. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Comedian zu spielen, während keine zehn Meter weiter eine Frau verletzt wurde!", fuhr ich ihn gestikulierend an. Automatisch wich er ein wenig zurück, als befürchte er, ich würde die Bücher noch einmal nach ihm werfen. Aber wenn er sich nicht bald wieder in Bewegung setzte, damit wir uns in Sicherheit bringen konnten, dann war dieser Gedanke gar nicht mal so abwegig. „Wir sollten uns in Sicherheit bringen, bevor wir die nächsten sind!"

Mein Herz raste vor Angst, das Blut in meinen Adern war gefühlt an den Nordpol ausgewandert und wenn ich nicht urplötzlich so unter Stress stehen würde, hätte ich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu heulen angefangen.

„In Sicherheit bringen?", hakte Henry verständnislos nach und sah mich an, als erzählte ich ihm gerade von einer geplanten Fischzucht. „Wovor denn? Der Säugling wird uns wohl kaum mit der Nabelschnur erdrosseln."

„Säugling? Wovon redest du?!" Hatte ich mit dem Buch vorhin zu hart zugeschlagen? Sah er denn nicht, wie die Frau stöhnte und vor Schmerzen auf die Knie ging? Ich konnte kaum hinsehen, so hilflos und mental schwach fühlte ich mich.

„November, die Frau da vorne ist hochschwanger und nicht hochansteckend", erklärte Henry langsam und deutete auf die Frau. Gerade lehnte sie sich mit Hilfe an den Tresen und in dem Moment sah ich auch den dicken Babybauch, den ich mit großen Augen anstarrte. Die Verkäuferin war selbst zu aufgeregt, um sie mit ihren kläglichen Versuchen zu beruhigen. Nervös bot sie ihr jegliche Dinge an, die sie brauchen könnte, selbst ein Geflügelsandwich und neue Kopfhörer. Ich konnte der werdenden Mutter ansehen, dass sie ihr am liebsten eine geklatscht hätte, aber sie legte ihren Fokus auf ihre Atmung. Dabei hielt sie sich an der Hand ihres Mannes fest, der versuchte, beruhigend auf sie einzureden und nicht müde wurde, sie ans Atmen zu erinnern. Ein Security-Typ telefonierte aufgeregt und einige andere Reisende blieben neugierig stehen und gafften.

Plötzlich prustete Henry los und zog somit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Du hast doch nicht geglaubt, wir geraten in einen Terroranschlag, bloß weil die arme Frau ihr Kind am Flughafen bekommt?"

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