ELF - Zweibeinerort

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ELF
Waldi, Zweibeinerort

Waldi holte aus und ließ seine Pfote auf die weiße Schicht, die sich auf dem Gras gebildet hatte, herabsausen. Er hatte schon einige Male am Fenster gesessen und beobachtet, wie früh morgens alles von diesem eigenartigen, im ersten Sonnenlicht des Tages schimmernden Weiß überzogen gewesen war. Sunny, die andere Hauskatze, die bei seinen Zweibeinern lebte, hatte das Phänomen als »Frost« bezeichnet und ihn dafür belächelt, dass er das Wort nicht gekannt hatte. Sie war eine alte, mürrische Kätzin, die den ganzen Tag auf einem großen Kissen neben dem Ofen lag. Waldi ging ihr so wie möglich aus dem Weg.

Er beobachtete, wie sich Teile der Frostschicht von dem Grasbüschel lösten, durch die Luft wirbelten und zu Boden rieselten. Dann setzte er seinen Weg durch die Gärten des Zweibeinerorts fort, lauschte dem leisen Knirschen, das seine Schritte auf den gefrorenen Pflanzen erzeugten und genoss es, endlich wieder unterwegs zu sein. Viel zu lange hatten seine neuen Zweibeiner ihn eingesperrt. Viel zu lange hatten sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, wenn er versucht hatte, ihr Haus zu verlassen. Viel zu lange hatte er nur hier und da einen Hauch von frischer Luft durch ein nur einen spaltbreit geöffnetes Fenster atmen können.

Ein einziges Mal war es ihm gelungen, auszubrechen. Er hatte sogar zu seinen alten Hausleuten zurückgefunden. Er vermisste sie noch immer, ebenso wie seine Mutter Feder.

Doch seine alten Zweibeiner hatten ihn einfach in sein neues Zuhause zurückgebracht, kaum dass er Feder begrüßt hatte. Er wusste nicht wirklich, warum sie das getan hatten, war ihnen aber auch nicht böse. Eigentlich waren sie ja alle ganz in Ordnung. Sowohl seine alten, als auch seine neuen Zweibeiner. Sie gaben ihm zu fressen, einen warmen Platz zum Schlafen und behandelten ihn gut. Nur Sunny ging ihm auf die Nerven.

Waldi sprang an den Planken eines hölzernen Zaunes hoch, hinter dem ungewöhnlich hohes Gras wucherte und hievte sich auf den nächsten Zaunpfahl. Von dort aus blickte er auf das Gebiet, das sich vor ihm erstreckte.

Es gab ihn tatsächlich. Einen Ort jenseits des Zweibeinerortes, wo das Netz aus Straßen endete, das Gras höher wuchs und die Landschaft plötzlich offen vor ihm lag, satt von Hecken und Zäunen in winzige Territorien unterteilt zu werden. Windböen pusteten durch Waldis Fell, während er dort oben saß und das ungewohnte Bild auf sich wirken ließ. Sie schienen Waldi geradewegs in das unbekannte Gebiet hinein wehen zu wollen. Aber nicht nur der Wind schien ihm sagen zu wollen, dass er endlich weiter gehen, das fremde Land erkunden sollte. Auch seine Neugierde zog ihn hinaus in diese Landschaft, die Sunny einmal »die Wildnis« genannt hatte.

Auf seiner linken Seite, nur etwa drei Zweibeinerort-Gärten entfernt, war eine ganze Gruppe von Bäumen umgekippt. Zweibeiner liefen dort zwischen Bergen von am Boden liegenden Ästen umher und schienen sich etwas zuzurufen. Schwer zu sagen bei dem Lärm, den das kleine rot und grau gefärbte Ding zu machte, das einer von ihnen an den Stamm eines noch stehenden Baumes hielt. In diesem Moment ertönte ein lautes Knacken, der Baum kippte zur Seite, fiel und schlug auf dem Boden auf. Seine Äste schwangen noch ein paarmal auf und ab, dann war es still. Bis die Zweibeiner wieder zu Rufen anfingen und der Lärm erneut losging. Waldi entschied sich, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen.

Dort wurde das Gebiet schnell felsiger und stieg an, bis es in der Ferne in eine Bergkette überging. Waldi kletterte eine besonders steile Stelle hinauf, statt den gemütlicheren Umweg zu nehmen und rannte dann ein Stück über eine weite, von kleinen Kieselsteinen bedeckte und nur hier und da von Grün durchzogene Fläche. Es tat wirklich gut, nicht mehr den ganzen Tag eingesperrt zu sein.

Ein Stück weiter – Waldi war inzwischen wieder langsamer unterwegs – bemerkte er einen bekannten Geruch. Irgendwo hier musste sich ein Wiesel herumtreiben. Er war, als er noch bei seiner Mutter und seinen alten Zweibeinern gelebt hatte, ein paar Mal einem der braun-weißen Geschöpfe mit den schlanken Körpern hinterhergejagt, war jedoch zu klein gewesen, um sie zu erwischen. Inzwischen jedoch war er ein ganzes Stück gewachsen.

Zersplittert - MMFFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt