6 - Eine magische Lilie

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Am Rand des Waldes angekommen, räusperte Severus sich.
„Bringen Sie die Zutatenkörbe zu meinem Büro und gehen Sie zum Fest."
Hermine sah ihn perplex an. „Und was machen Sie?"
„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht."
„Ähm, also...", stotterte die sonst so neunmalkluge Gryffindor.
Genervt zog er eine Augenbraue hoch und fauchte: „Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit, Miss Granger. Sie kennen wohl noch den Weg zum Schloss."
„Ja, ja, natürlich", sagte sie hastig, „aber Sie sollten mitkommen."
„Gehen Sie", er wurde langsam ungeduldig. Er wollte zu Lilys Grab.
„Ich kann nicht."
„Was soll da heißen, sie können nicht?"
„Verlassen Sie das Schlossgelände?"
„Miss Granger, 20 Punkte Abzug, für Ihre unangebrachte Neugier und dass Sie mir die Zeit stehlen. Jetzt verschwinden Sie endlich!"
„Ich kann nicht. Wenn Sie das Gelände verlassen, komme ich mit."
Wie bitte? Hatte diese kleine Göre den Verstand verloren?
„Haben Ihre Flügel Sie größenwahnsinnig werden lassen? War der Kampf im Ministerium im Sommer nicht schon genug? Sie gehen ins Schloss zu Ihren idiotischen Freunden und feiern dieses grauenhafte Fest!"
„Professor, ist Ihnen nicht aufgefallen, dass wir auch die Sinnesschärfe der Geschöpfe haben, in die wir uns verwandelt haben?", fragte Sie leise.
Oh doch, das war unmöglich nicht zu bemerken. Er hörte ihren Herzschlag, roch ihren leichten Duft nach Jasminblüten und sah jedes Härchen ihrer leuchtenden Flügel. Selbst ihre Haut schimmerte, als würde sie von ihnen leuchten.
„Selbstverständlich. Und was hat das damit zu tun?"
„Mein Instinkt sagt mir, dass Sie heute Nacht vielleicht einen Schutzengel brauchen."
Er schnaubte freudlos. „Wohl kaum. Eher bräuchten Sie einen. Vor was sollten Sie mich schon beschützen können? Machen Sie sich nicht lächerlich."
„Vielleicht vor Ihnen selbst. So oder so werde ich heute Nacht nicht von Ihrer Seite weichen."
„Sie bleiben hier!", donnerte Severus. Seine Geduld war endgültig am Ende.
Die Gryffindor sah ihn trotzig in die Augen. „Nur wenn Sie auch hier bleiben."
„Was ich wo mache, geht Sie überhaupt nichts an, Sie vorlaute, freche Miss Know-it-all!"
„Ich weiß. Ich halte mich vollkommen bedeckt. Sie werden gar nicht merken, dass ich da bin und ich werde auch niemandem erzählen, wo Sie an Halloween hingehen."
Er schloss die Augen, legte die Fingerkuppen an seine Nasenwurzel und runzelte die Stirn. Er kannte diese Löwin gut genug, dass er wusste, sie würde nicht machen, was er ihr sagte. Also blieben ihm eigentlich nur drei Möglichkeiten: sie in die große Halle bringen, sie stehen lassen oder sie mitnehmen. Würde er sie in die Halle bringen, käme er wahrscheinlich nicht mehr weg, sobald Albus ihn sah und diesen war sein Fehlen sicherlich schon aufgefallen. Unbemerkt Miss Granger an ihre Freunde zu übergeben war ein unmögliches Unterfangen, erst recht mit ihren gigantischen Flügeln. Am Liebsten hätte er sie einfach stehen lassen. Wie sollte sie ihm schon folgen, wenn er apparierte? Wahrscheinlich würde sie versuchen ihn zu orten oder ihrem komischen Instinkt folgen. So oder so, wenn sie sich alleine außerhalb des Schulgeländes aufhielt, schwebte sie in Lebensgefahr. Auf der muggelstämmigen besten Freundin Potters stand ein Kopfgeld aus, das nur knapp unter dem für Potter selbst galt. Schwer seufzend knurrte er: „Gut, kommen Sie, aber Sie tun exakt was ich Ihnen sage und sprechen kein einziges Wort, verstanden?"
Miss Granger nickte und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Ruckartig drehte er sich um und marschierte zur Appariergrenze. Dort packte er Miss Granger am Arm und erschien im nächsten Augenblick mitten auf dem Friedhof von Godric's Hallow. Er spürte, wie die junge Hexe sich leicht unter seinem Griff versteifte, aber sie sagte nichts.
„Bleiben Sie hier stehen", wies er sie an.
Stumm nickte sie, also lies es sie los und lief die wenigen Meter zum Grab der Potters.
„Hallo Lily", flüsterte er krächzend. Er ging auf ein Knie und strich sanft über ihren Namen. Wie jedes Jahr war ihm zum Weinen zu Mute, aber seine Miene blieb versteinert, genauso wie sein Herz, das unter der harten Schicht aus Stein krampfte und schrie und in seine Eingeweide krallen und ihn zerfetzen wollte. Er vermisste sie jeden einzelnen Tag und diese Sehnsucht war sein persönliches Fegefeuer, aber die wahre Intensität des Schmerzes hatte er tief vergraben, um kalt und berechnend seine Rache durchzuführen. Mit einem schnellen Zauber entfernte er das Unkraut und lies neue Blumen auf dem Grab entstehen. Rote Rosen, weiße Narzissen und blaue Tulpen. Seine Gedanken und Gefühle überschlugen sich und gleichzeitig war er wie leer gefegt. Lily hatte ihn immer verstanden, selbst, wenn er sich selbst nicht verstand. Bis er ihre Freundschaft durch diesen furchtbaren Fehler zerstörte. Was würde Lily wohl zu seiner Mission Dumbledore zu töten sagen? Er fühlte sich so einsam wie noch nie in seinem Leben und diese Einsamkeit schien ein schwarzes Loch in sein Inneres zu reißen, welches in unendliche Verzweiflung führte.
„Lily", flüsterte er noch einmal und in seiner Stimme lagen die Tränen, die seine Augen nicht frei gaben.
Ein grüner Stengel sprießte direkt vor ihm aus dem Grab und wuchs in die Höhe, glatte, spitz zulaufende Blätter entfalteten sich und mehrere Blüten bildeten sich, die sich schließlich trompetenförmig öffneten. Eine schneeweiße Lilie ragte nun zu ihm auf. Er runzelte die Stirn. Hatte er Miss Granger nicht gesagt, sie solle da stehen bleiben?
„Waren Sie das?", fragte er ungehalten, aber niemand reagierte. Er wandte sich um und sie stand, wo er sie zurück gelassen hatte, mit einem fragenden Blick auf ihn gerichtet.
„Miss Granger", rief er sie zu sich. Langsam kam sie zu ihm.
„Ja, Professor?", fragte sie so leise, dass er sie kaum hörte.
„Waren Sie das?" Severus deutete auf die Lilie. Miss Granger trat näher und blickte auf die prachtvollen Blüten.
„War ich was?"
„Jetzt stellen Sie sich doch nicht dümmer als sie sind. Haben Sie die Lilie erzeugt?"
Ihre Augen weiteten sich überrascht. „Oh, nein, habe ich nicht", sie warf einen schnellen Blick auf den Grabstein. „Wenn Sie es nicht waren, war es vermutlich Lily. Vielleicht ist sie eine Botschaft oder eine Zaubertrankzutat? Vielleicht hat ihr Duft eine besondere Wirkung?", schlug Miss Granger vor.
Nachdenklich wandte er sich wieder dem Grab zu. Weiße Lilien standen für Reinheit und waren traditionell in Hochzeitssträußen, allerdings waren sie nicht in Lilys Strauß gewesen, das wusste er genau. Sie hatte gelbe Blumen gewählt als Zeichen der Freude. Sich unbemerkt durch einen Illusionierungszauber ihre Hochzeit anzusehen, war seine ganz persönliche Folter gewesen. Weiße Lilien standen aber auch für Tod und wurden in vielen Heiltränken verwendet. Was wollte Lily damit sagen?
Schließlich pflückte er die Lilie und schnupperte daran bemerkte allerdings nichts auffälliges. Ratlos hielt er Hermine die Lilie hin, sodass diese auch daran schnuppern konnte. Sie beugte sich leicht vor und schloss die Augen, um sich auf den Duft konzentrieren zu können. Ihre Wimpern waren lang und tief schwarz. Für ihr Kostüm hatte sie sich geschminkt, aber nun war jedes Make-Up verschwunden, da war er sich sicher. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre Lippen sagen zart und rosig aus. Er beugte sich zu ihr hinab und als sie die Augen wieder aufschlug und den Blick hob, erstarrte sie. Severus Gesicht war nur noch Zentimeter von ihrem entfernt. Er roch den Duft der Lilie, Hermines leichten Duft nach Jasmin und den schweren Duft ihres Blutes. Ihre haselnussbraunen Augen schienen ihm bereitwillig ihre Seele offenzulegen und er sah nichts als pure Reinheit. Er spürte ihren Atem, als sie sich wieder gefasst hatte und sah wie sie statt zurück zu weichen, ihre Lider wieder senkte. Als seine Lippen über ihre strichen, streckte sie ihm ihr Kinn etwas mehr entgegen. Die Einladung annehmend begann er sie sanft zu küssen. Sie schmeckte köstlich. Süß und lebendig. Er presste seine Lippen auf ihre, strich mit seiner Zunge von ihrem linken Mundwinkel zum rechten und sie öffnete ihre Lippen für seine Zunge. Zärtlich sog er ihre Unterlippe etwas zwischen seine Lippen und hörte ihr Seufzen. Sie legte ihre Hände in seinen Nacken und schmiegte sich an ihn. Er umschlang sie. Ihr Körper war zart und weich. Diese Nähe raubte ihm den letzten Rest seines Verstandes. Leidenschaftlich umspielte seine Zunge ihre, bis sich sein Mund von ihren Lippen zurück zog und über ihre Wange hinunter in ihre Halsbeuge wanderte. Ihr Puls raste unter seiner Liebkosung. Ihre Haut gab unter seinen Zähnen sofort nach und das Blut sprudelte in seinen Mund. Er hatte solchen Hunger und solches Verlangen nach ihr. Sie schmeckte himmlisch. Wie eine frisch gereifte Frucht. Wie junger Wein eines großartigen Jahrgangs. Die Ekstase überrollte ihn und ein leidenschaftliches Knurren entfuhr seiner Kehle. Reine Glückseligkeit, Liebe und Zuneigung floss durch seine Adern. Plötzlich spürte er ihre Lippen über sein Ohr streichen. Ganz zart, wie der Schlag eines Schmetterlings. So schnell er gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Auch ihre Hände rutschten von seinem Nacken und sie merkte, wie ihr Körper in seinen Armen erschlaffte. Erst jetzt kam er wieder zu sich. Wie nach einem tiefen Schlaf schlug er die Augen auf und starrte entsetzt auf die junge Frau, die bleich und reglos in seinen Armen lag. Ihr Atem war flach, ihr Herz raste beim Versuch das wenige verbliebene Blut schnell genug durch ihre Glieder zu schicken um alle Zellen mit Sauerstoff zu versorgen. Was hatte er getan?
Er apparierte nach Hogwarts, rannte mit ihr auf seinen Armen in seine Gemächer, legte sie sanft auf seinem Bett an und holte hastig mehrere Blutbildungstränke von denen er ihr direkt drei einflößte.
Erst als er sich auf einen Stuhl neben sie sinken ließ und ihre Hand hielt, brach sein Autopilot zusammen und er zitterte. Wie hatte er so die Kontrolle verlieren können? Warum hatte er sie geküsst? Sie war seine Schülerin, Salazar noch eins! Und er mochte sie noch nicht mal. Zumindest war das immer so gewesen. Fühlte sich küssen immer so gut an? Wenn ja hatte er definitiv was verpasst in den letzten Jahrzehnten. Mit seinem Daumen strich er sanft über Hermines leicht geschwollene Unterlippe und ein kleines Lächeln legte sich auf ihre wunderschönen Züge. Was? Er musste sofort aufhören so an sie zu denken. Aber dieses Vorhaben war zwecklos, so lange er an ihrem Bett saß. Doch er konnte nicht gehen, er musste sich um sie kümmern und über sie wachen. Jede Stunde flößte er ihr eine weitere Phiole Blutbildungstrank ein bis er schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

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