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Mika'il sah sie zuerst. Rauch und Staub züngelten um sie herum wie ein Gebet. Sie kauerte auf dem Boden, eine Gestalt in ihren Armen und weinte. In einer vollkommen erstarrten Welt war ihr zitternder Körper alles, was sich bewegte zwischen den gefallenen Steinen.
Drei Pfeile ragten aus dem Rücken des Prinzen. Weiß gefedert gegen den Schutt und den Dreck um sie herum. Die stille Verwüstung.
Mika'il bewegte sich ebenfalls nicht. Konnte es nicht. Er war zu langsam gewesen.
Er war zu langsam gewesen.
Hinter den Ruinen des Palasts sammelten sich die Männer des Königs. Die Rebellen hatten sich zurückgezogen. Sie würden an einem anderen Tag zurückkommen. Wenn das Orakel einen neuen Caraiden ausgerufen hatte.
Er musste sie hier raus bringen. Er musste sie retten. Aber er bewegte sich nicht. Er konnte es nicht. Er war zu langsam gewesen.
Er schmeckte die erste Träne, bevor er sie auf seiner verbrannten Haut spürte. Sie überraschte ihn so sehr, dass er sie mit seinen schwarzen Fingern auffing und betrachtete. Wann hatte er das letzte Mal geweint?
Er schüttelte sie ab und machte den ersten Schritt. Über zersplitterte dumpf glühende Wurzeln hinweg. Durch verkohltes Mobiliar und zerborstene Steine. Zu dem Zentrum des Sturms. Zu dem zerstörtesten Teil.
Sie hob den Kopf, bevor er etwas sagen konnte und seine Kehle wurde eng. Er wusste, was er machen musste. Wusste, dass er es machen konnte. Dass er vor einem Jahr nicht einmal eine Sekunde gezögert hätte. Aber als die blauen Augen seine trafen ging er neben ihr in die Knie.
Blut des Schattenprinzen tränkte ihre Kleidung, mischte sich mit Asche und Dreck. Sie hielt ihn fest, als wäre er ihr Anker.
„Er hätte das nicht tun müssen", die Worte kamen so leise, dass die Welt die Luft anhalten musste, um sie zu hören, „Er hätte das nicht tun dürfen."Mika'il legte seine Hand auf ihre. So viel größer. So viel rauer.
„Er hat getan, was er für richtig hielt." Sie musste das verstehen. Adriel hätte niemals seinem Bruder den Thron weggenommen. Nicht, wenn es ihm so viel bedeutete. Nicht, wenn er glaubte, dass er Ana und den Rest der Welt anders schützen konnte.Doch Ana schüttelte den Kopf, kaum genug Luft bekommend für ihre Tränen.
„Ich habe das nicht gewollt. Ich hätte das niemals gewollt." Sie war beinahe durchsichtig, so sehr zitterte sie.Hinter ihnen ertönte ein Horn. Das Signal zum Sammeln der Soldaten. Von Kellen war keine Spur zu sehen.
Mika'il drückte ihre Hand und sie sah wieder zu ihm auf. Blaue Augen zu goldenen Augen. Er brauchte keine Narbe für dieses Versprechen.
„Das war nicht deine Entscheidung. Er wollte, dass du lebst. Und ich werde dafür sorgen, dass sein letzter Wunsch in Erfüllung geht."Wieder schüttelte sie den Kopf, doch ihre Antwort wurde durch das Rauschen des nächsten Geschosses erstickt. Es zerriss den Himmel über ihnen und grub sich im Garten hinter ihnen in die Erde. Der Lärm ließ sie beiden zusammenzucken und Mika'il lehnte sich instinktiv über sie.
Mit seiner freien Hand griff er in Anas Rocktasche und zog den Dämonenstein heraus. Er hielt ihn zwischen Ana und sich. „Du musst von hier verschwinden", und als ihr Kopfschütteln heftiger wurde, wiederholte er noch einmal, „Du musst."
„Ich kann ihn nicht hier lassen."
Mika'il griff ihr Kinn, damit sie ihn ansehen musste.
„Er hat sein Leben für deines gegeben. Du bist es ihm schuldig. Ich werde mich um ihn kümmern."Anas Augen huschten von ihm zu Adriels Körper und dann hinaus auf den Innenhof. Verzweifelt auf der Suche nach einem anderen Ausweg. Doch neuerliche Geschosse gaben ihr die Antwort. Sie trafen das Haus auf einer anderen Seite. Steine füllten die Luft und Schreie von Leuten, die dort Sicherheit gesucht hatten.
„Ich kann den Stein nicht alleine nutzen", brachte sie schließlich hervor, „Ich brauche Dämonenblut und Kaïa..."Instinktiv sahen sie beide dorthin zurück, wo sie Kaïas Körper zurückgelassen hatten. Mika'il schloss für einen Herzschlag die Augen. Es gab keine guten Wege, wie er ihr das sagen sollte. „Dein Blut reicht."
Fragend sah sie zu ihm auf, doch dunkle Rüstungen der Königssoldaten bogen in diesem Moment hinter ihr auf den Innenhof ein. Ihre Rufe sandten sie beide hoch auf ihre Füße.
Sie hatten keine Zeit für Erklärungen. Sie hatten überhaupt keine Zeit mehr. Mika'il drückte ihr den Stein in die Hand und schloss ihre Finger darum.
„Ich werde dich finden."Dann tat er einen Schritt zurück.
Sie wollt ihm folgen, doch Blut aus den vielen Schnitten in ihrer Haut sammelte sich um den Stein. Rann in seine Risse hinein. Sein Pulsieren wurde stärker, sogar für ihn spürbar. Es stoppte sie in ihrer Bewegung, zu gleichen Teilen erschrocken und verblüfft. Er hatte recht gehabt. Und sie realisierte es ebenfalls.
„Komm mit mir mit", sie streckte die Hand aus, doch Mika'il wich noch weiter zurück. Es kostete ihn mehr Kraft als er jemals zugeben wollte.Er hatte Khan ein Versprechen gegeben. Er würde es dieses Mal nicht brechen. Er konnte hier etwas ändern.
Ihre Gestalt begann zu vibrieren, verlor an Klarheit. Aber er sah die Angst. Wie sie sich hin und her wandte, als könne sie den Prozess verlangsamen.
Hinter ihr begannen die Soldaten zu rennen, ihre Schwerter gezogen.Er wollte sie in den Arm nehmen. Aber er tat es nicht.
„Ich kümmere mich um deinen Prinzen", versprach er ihrem verschwimmenden Bild, seine Kehle so eng, dass er kaum Luft bekam, „Und dann werde ich dich finden."Ein gleißendes blaues Licht ging von dem Stein aus und verschluckte ihre Gestalt. Mika'il hob den Arm, um seine Augen zu schützen. Aber er wich nicht weiter aus. Ließ die Hitze über sein Gesicht brennen und unter seine Haut.
Dann war sie fort. Und er war wieder alleine.
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Ich hatte dieses Ende zu diesem Lied, bevor ich auch nur eine Zeile in der neuen Fassung geschrieben habe.
DAS ENDE.
Ich hab viele Charaktere in meinem Leben sterben lassen, aber das hier... aus irgendeinem Grund bricht mir dieses das Herz.
Epilog folgt in einer Stunde.
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The Demon Stone - Der Weltenwandler I
FantasyAnas Psychologin hat eine sehr gute Erklärung dafür, dass sie Dinge sieht, die eigentlich nicht da sind. Diese Erklärung scheitert allerdings an der Tatsache, dass manche dieser Dinge blaue Flecken auf Anas Haut hinterlassen. Und Ana will gar nicht...