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Min Yoongi
Dienstag, 18:30


«Fuck Yoongi!» hörte ich jemanden rufen. Anschliessend ertönten dicht hinter mir Bremsgeräusche und schon stand jemand über mir. Langsam rappelte ich mich auf und wollte mich mit meiner Hand abstützen, zuckte jedoch schmerzhaft zusammen.
«Du blutest ja!», vernahm ich wieder diese helle, klare Stimme und ich betrachtete meine Handflächen. Sie waren aufgeschürft und ein dünner Rinnsal Blut lief zwischen meine Finger.
«Kannst du aufstehen?»

Ich sah nach oben und erkannte den mir in den letzten Tagen allzu vertrauten orangen Haarschopf. Erneut versuchte ich mich hochzurappeln und Jimin unterstützte mich vorsichtig, indem er meine Unterarme griff und mich hochzog.
«Gehts einigermassen? Was ist denn überhaupt passiert?», in seiner Stimme schwang Sorge mit, er versuchte sie noch nicht einmal zu überdecken.
«Da war dieses Reh ...», murmelte ich. Jimin schüttelte den Kopf und richtet mein Fahrrad wieder auf.

«Wir bringen dich jetzt erst einmal nach Hause und dann verarzte ich dich richtig. Dein Knie ist ja auch ganz wund!»
Ich wollte dem Jungen mein Rad abnehmen, doch er schüttelte nur den Kopf und deutete auf mein rechtes Bein. Als ich das Blut sah und den brennenden Schmerz wahrnahm, knickte ich schliesslich ein und liess Jimin machen. Er schob mein Rad auf der einen Seite und sein eigenes auf der andere, während ich ihm stumm hinterherhinkte.
«Tut dir sonst noch was weh?», erkundigte er sich. «Dein Kopf? Dein Vater wird mich umbringen. Ständig verletzt du dich, wenn du mit mir rumhängst.» Der Orangehaarige schüttelte ungläubig den Kopf und ich schnaubte bloss.

Bis zu meinem Haus waren es zu meinem Glück bloss noch wenige Minuten, doch ich war trotzdem froh, als wir endlich beim Gartentor angelangt waren und Jimin unsere Räder an den Zaun stellte. «Ist dein Vater zuhause?», fragte er, als ich vergebens versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ohne Kommentar nahm er mir das Teil aus der Hand und schloss selbst auf.
Etwas beschämt liess ich meinen Kopf hängen. «Nein, er ist bei meiner Oma.»

«Gut», Jimin trat hinter mir in das Haus und schob mich sofort in die Küche, wo ich wie ein geschlagener Pudel auf den Stuhl plumpste. «Du setzt dich jetzt erst einmal hin und sagst mir, wo ihr euer Verbandszeug habt.»
Überfordert von seinem vielen Geplapper begriff ich erst nicht, was der Junge von mir verlangte. Verdattert starrte ich ihn an.
«Euer Verbandszeug? Pflaster, Salbe, Desinfektionszeugs?», zählte er ungeduldig auf.
«Im Bad.» Ich rieb mir übers Gesicht, vergass dabei ganz, dass meine Hand noch völlig verblutet war.
Jimin verzog etwas angeekelt das Gesicht und hob mich wieder vom Küchenstuhl hoch. «Na gut, du kommst jetzt mit.»

Zugegeben, ich war etwas fasziniert von seiner Gefasstheit. Ich an seiner Stelle hätte bereits auf dem Feldweg dem auf dem Boden liegenden Fahrrad Gesellschaft geleistet.

Wir betraten das Bad und das grelle Neonlicht blendete mich in den Augen. Jimin setzte mich sofort auf den Toilettendeckel und durchsuchte die Badzimmerschränke. Als er fand, was er gesucht hatte, kniete er sich vor mich hin. Mit einem feuchten Lappen wischte er den Dreck aus meinem aufgeschürften Knie und verzog dabei keine Mine. Wer hätte gedacht, dass Park Jimin wusste, wie man eine Wunde versorgte und dabei noch die Ruhe selbst zu sein schien.

«Das könnte jetzt etwas brennen», warnte er mich und schon zog ich schmerzhaft die Luft ein, als er mit Desinfektionsmittel meine Wunde besprühte. «Sorry» murmelte er.
Er schnappte sich eine Gaze, legte sie auf die offene Stelle und wickelte einen kleinen Verband darum. «Und jetzt deine Hände», rede er weiter und ich reichte ihm meine rechte Hand. Vorsichtig nahm er sie in seine und schweigend musterte ich seine Finger. Sie waren deutlich kürzer als meine, jedoch schien meine Haut im Gegensatz zu seiner durscheinend wie ein Blatt Papier.
Ich hob langsam meinen Blick und beobachtete seine konzentrierten Gesichtszüge. Seine Stirn war mit kleinen Falten geziert, die nur dann zu sehen waren, wenn der Junge sich ausschliesslich auf etwas fokussierte. Wenn er beispielsweise in die Mathematikaufgaben vertieft war oder beim Zocken völlig erpicht um den ersten Platz kämpfte. Aber auch beim Basketballspielen oder wenn er bloss seinen Freunden zuhörte bei den Dingen, die ihnen wichtig waren.
Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und ich versuchte mich wieder auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Das leichte Brennen meiner aufgeschürften Haut, das Summen der Neonröhre über dem Spiegel und Jimins gleichmässiger Atem vor mir.

«Erklärst du es mir? Ich will es wirklich verstehen Yoongi.» Während er sprach, wusch er sachte das Blut von meinen Fingern und sah mich nicht an. Doch ich erkannte am Zittern seiner Hände, wie nervös er vor meiner Antwort war.
Natürlich wusste ich genau, wovon er sprach. Ich hatte nur keine Ahnung, wie ich es dem Jungen erklären sollte.

«Warum hast du bloss solche Angst davor, nicht allein zu sein?»
Bei diesen Worten brach etwas in mir und ich wandte mein Gesicht ab. Nicht mehr lange und meine Augen würden sich mit Tränen füllen.

«Wenn ich niemanden habe, kann ich auch niemandem wehtun», flüsterte ich beinahe, doch Jimin hatte meine Worte gehört. Er liess meine Hand los, nachdem er einen Verband um meinen Handballen gewickelt hatte, und hob nun doch den Blick.

«Warum?» war das Einzige, was er fragte.
«Ich hinterlasse nur Chaos, Jimin. Alle die mir etwas bedeuten, lasse ich fallen. Und das will ich dir nicht antun.»
Jimins Augen sahen mich traurig an und langsam nickte er. Ohne etwas zu sagen, verband er meine zweite Hand, wusch anschliessend im Waschbecken den Lappen aus und kam zu mir zurück. «Darf ich?», flüsterte er und hob ihn an meine Wange. Ich nickte leicht und Jimin wusch mir sachte das verschmierte Blut aus dem Gesicht.
Ich hielt meine Lider gesenkt, so würde er den Schmerz nicht erkennen können.

«Und was ist, wenn ich das nicht zulasse?»
Ich atmete zitternd aus. «Jimin, ich habe einfach Angst.»
«Ich weiss.» Der Junge liess seine Hand wieder sinken und betrachtete mich schweigend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, geschweige denn, was der Junge gegenüber von mir hören wollte.

«Hör mal Yoongi», setzte er vorsichtig an, «ich weiss, du willst nicht darüber reden, was passiert ist.» Ich senkte den Blick, unfähig, dem Jungen in die Augen zu schauen, ohne das Gefühl zu haben, er würde direkt in meine Seele blicken können. «Aber es macht mich traurig, dich so zu sehen und ich möchte dir wirklich helfen. Aber dafür musst du meine Hilfe auch annehmen.»
Ich schwieg und wischte mir hastig eine verräterische Träne vom Gesicht, die mir heiss über die Wange lief. Jimin griff langsam nach meiner Hand und suchte meinen Blick.

«Du kannst mir so viel über deine Ferien erzählen, wie du willst. So lange, bis mir die Ohren davon surren. Ich nehme dich liebend gerne auf jede Party mit, auf die ich gehe. Du darfst mich so oft du willst beim Zocken schlagen, auch wenn es mein Ego kränkt.» Er sah mich ernst an und drückte meine kalten Finger. «Und eine Pizza bin ich dir schliesslich auch noch schuldig», fuhr Jimin schmunzelnd fort und ich schnaubte bloss obwohl mir so gar nicht nach Lachen zumute war. Denn genau das war es, was ich mir schon lange wünschte. Einen Freund, mit dem ich all dies tun konnte.

Ich lächelte Jimin bloss vorsichtig an, doch der Junge schien zu verstehen, wie wichtig mir seine Worte waren. Trotzdem konnte ich nicht mehr länger mit ihm darüber sprechen, wenn er mir nicht auch noch die Tränen trocknen wollte. «Jetzt ist dein Shirt voller Blut», murmelte ich also, um das Thema zu wechseln und betrachtete den roten Stoffsaum.
«Halb so wild», winkte Jimin ab, «Kleider kann man waschen.» Narben nicht, ergänzte ich in Gedanken.

Dankbar nickte ich und stemmte mich hoch. «Danke Jimin.»
«Immer wieder gerne» meinte er bloss und lächelte mich an. Danach schwiegen wir, keiner schien genau zu wissen, was der andere hören wollte, bis der Orangehaarige die Stille jedoch durchbrach. «Ich glaube, dein Vater ist gerade nach Hause gekommen.» Er hatte Recht. Dieser Mann war wohl der lauteste Türschliesser, den ich kannte.

Nebeneinander verliessen wir das Badezimmer und ich begleitete Jimin zur Haustüre. Mein Vater war schon in der Küche und schien an irgendetwas herumzuwerkeln. Wie sollte ich ihm meine aufgeschürften Hände bloss erklären.

Ich beobachtete, wie Jimin in seine Schuhe schlüpfte und seinen Rucksack schulterte. Langsam öffnete er die Tür und räusperte sich. «Du solltest deine Schürfungen später noch einmal desinfizieren.» Ich nickte und der Junge wollte sich schon umdrehen, schien sich im letzten Moment jedoch dagegen zu entscheiden und sah mich erneut an.
«Wirst du morgen wieder mit mir essen?»

Es war ihm ernst, das wusste ich. Seine gerunzelte Stirn und der Mund, der so selten nicht zu einem Grinsen verzogen war, liessen mich verstehen, wie wichtig ihm meine Antwort auf seine Frage war.

Ich würde ihm wehtun, ihn fallen lassen, so wie ich es mit allen tue. Das würde ich nicht verkraften. Aber genauso wenig wollte ich mich von Jimin fernhalten. Von seinen dämlichen Sprüchen und noch dämlicheren Grinsen. Seinen Freunden, die so laut und aufgebracht waren, mich trotz meines Schweigens dennoch, ohne zu zögern bei sich aufgenommen hatten. Ich würde das Gefühl von Dazugehörigkeit vermissen. All dies könnte ich haben, ich müsste mich nur treiben lassen.

«Ich denke schon.»

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