Kapitel 5

286 16 1
                                    

Maverick's POV

Wenn ich eines an der Schule hier hasste, dann war es Harry. Er war arrogant, egozentrisch und ein absolutes Arschloch. Schon hunderte Male hatte ich ihm gedroht, weil er meinem Bruder das Leben schwer machte. Das schien er immer gekonnt zu ignorieren. Er wusste genau, dass ich ihm nichts anhaben konnte und das war etwas, was mich innerlich zum Kochen brachte.

Seine Eltern waren irgendwelche reichen Geschäftsleute die ihren Sohn mithilfe von Geld aus allen möglichen Problemen raushielten. So spendete die Familie ein paar Summen an die Schule und schon sahen alle Lehrer weg und Harry konnte machen was er wollte.

Das ging mit gehörig gegen den Strich. Niemand sollte es wagen, meinen Bruder zu beleidigen, zu schlagen oder zu verarschen, nur weil er blind war! Und genau das gleiche Gefühl, wie wenn ich Harry nur sah, bekam ich, als ich diesen Alex das erste Mal gesehen hatte. Definierte Muskeln, markante Gesichtszüge, perfekt sitzende blonde Haare. Ein Fuckboy wie er im Buche stand. Gnade ihm Gott, wenn er Keaton auch nur falsch angucken würde.

Apropos Keaton. Es war mittlerweile nach Schulschluss und ich kämpfte mich gegen den Strom aus flüchtenden Schülern in die Klasse meines Bruders. Diese war schon leer. Ich seufzte. Keaton war wahrscheinlich schon mit Alex nach draußen gegangen.

Als ich den Klassenraum wieder verließ, blieb ich abrupt stehen. Ich hörte das hässlichste Lachen, das ein Mensch überhaupt haben konnte. Ich folgte dem Klang, bis ich einen Flur weiter Harry entdeckte. Zahlreiche Schüler waren

stehengeblieben und sahen zu, wie er auf meinen Bruder zeigte. „Keaton hat sich eingepisst!" rief er.

In mir kochte die Wut. Ich wollte auf ihn losrennen, aber erstaunlicherweise ging Alex dazwischen. Erst als ich meinen Blick auf Keaton richtete, fiel mir seine Hose auf. Sie war gar nicht nass. Es war nicht einmal die Hose, die Mom ihm heute Morgen rausgelegt hatte. Ich wechselte meinen Blick zu der Hose von Alex und traute meinen Augen kaum. Alex nahm den Spott von Harry auf sich, damit Keaton es nicht tun musste.

Ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte. Ich fand Alex immer noch gefährlich.

„Harry!" knurrte ich nach einiger Zeit und schubste ihn endlich von Alex und Keaton weg. „Ich habe dir mehr als einmal deutlich gemacht: du sollst meinen Bruder in Ruhe lassen!" „Jetzt bin ich schuld, dass dein Bruder sich in die Hosen macht?" fragte Harry aufgebracht, während ich Mühe hatte meine Wut zu Zügeln. Ich war drauf und dran, ihm hier und jetzt vor den ganzen anderen Schülern eine runterzuhauen, aber das würde nur wieder Ärger für mich und meinen Bruder bedeuten. Ich atmete tief ein und ließ ihn los. „Hau ab..." brummte ich.

Harry verschwand mit einem schelmischen Grinsen auf seiner Visage.

Ich drehte mich um, sah Alex an und deutete mit meinem Blick auf deren getauschte Hosen. Ich nickte ihm ein Mal zu. Mehr brauchte es nicht um ihm zu zeigen, dass ich dankbar war, für das, was er getan hatte.

Keaton hatte einen hochroten Kopf und versteckte sich hinter Alex. Ich nahm seinen Arm und führte ihn nach draußen, wo unser Bus gerade davonfuhr... Na super.

———————

Keaton's POV

„Was war da los?" fragte mich Maverick auf einmal, als wir nach draußen gegangen waren. Ich hörte ihn seufzen. „Nichts..." murmelte ich. Ich wollte jetzt absolut nicht darüber reden. Es war mir immer noch mehr als peinlich. Auch wenn Alex meine Hose getragen hatte, würden wahrscheinlich trotzdem alle denken, ich wäre der, der sich eingepinkelt hatte.

Maverick führte mich am Arm, wir gingen die Straße entlang. „Haben wir den Bus verpasst?" fragte ich, da es mir so schien, als würden wir nach Hause laufen.

„Keaton..." Mein Bruder blieb stehen und seufzte erneut. „Was hat Harry schon wieder getan, dass deine Hose komplett nass war?" Er klang ruhig.

Ich entspannte mich ein wenig. Jetzt war ich es, der seufzte. Ich erzählte ihm die Kurzfassung: Ich war auf der Toilette und Harry hatte den Wasserhahn so verstellt, dass ich das ganze Wasser abbekam.

„Und Alex hat dir geholfen?" fragte er zögerlich, während wir unseren Weg fortführten. Ich nickte. „Ja, er hat vorgeschlagen, die Hosen zu tauschen. Er meinte ihm würde das nichts ausmachen mit einer nassen Hose nach Hause zu laufen." Erneut stieg mir die Röte ins Gesicht.

Mein Bruder blieb daraufhin still.

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, tauchte meine Mom im Flur auf. Sie war ganz außer sich. „Ihr hättet schreiben oder anrufen können, dass ihr den Bus verpasst! Ich hab mir solche Sorgen um euch gemacht!"

Innerlich verdrehten wir wohl beide die Augen, ich konnte mir nur vorstellen, wie meine Mom die Arme in die Luft warf und wild hin und her gestikulierte. Diese Vorstellung brachte mich fast schon zum Lachen, auch wenn ich kein Gesicht mehr vor Augen hatte.

Diese schlagartige Erkenntnis, dass ich vergessen hatte wie meine Mutter aussah, brachte mich beinahe zum weinen. Ich drehte mich um, tastete nach dem Treppengeländer und verabschiedete mich in mein Zimmer.

Mit der Zeit würde ich alles vergessen. Jede Farbe, jedes Gesicht... irgendwann würde ich die Menschen nur noch an der Stimme erkennen. In meinem Kopf würde kein Bild mehr von ihnen auftauchen. Irgendwann würde ich das Aussehen aller Menschen, die mir wichtig waren, vergessen...

Ich lag im Bett und starrte an die Decke. Ich spürte erst gar nicht, dass kleine Tränen langsam meine Wange hinunter kullerten. Ich schniefte und wischte mir mit meinem Ärmel über die Augen.

Meine Mutter kam kurze Zeit später rein und brachte mir meinen Blindenstock. Ich hatte ihn heute Morgen noch, später aber vergessen wo ich ihn hingelegt hatte. Zeit zum Suchen hatte ich dann auch nicht mehr.

Ich bedankte mich bei ihr und wollte nach meinem Handy fischen um Musik anzumachen, doch ich spürte wie sich das Bett unter mir bewegte und sich meine Mom hinsetzte.

"Was ist los?" fragte sie sanft, während sie ihre Hand auf meinen Arm legte.

Ich wollte sagen, dass nichts los war und dass sie gehen konnte. Ohne es zu kontrollieren, fing mein Kiefer allerdings an zu beben. Wieder sammelten sich Tränen in meinen Augen.

Keine zwei Sekunden später hielten mich die beschützenden Arme meiner Mutter fest. Behutsam strich sie über meinen Rücken. Ein Schluchzer nach dem anderen verlies meine Kehle. "Ich–" Meine Stimme brach direkt

Ich hörte die sanfte, beruhigende Stimme von Mom. "Shhhh..."

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis ich mich beruhigt hatte.

"Ich habe Angst... Ich... Ich kann mich nicht mehr erinnern wie du aussiehst," brach es endlich aus mir heraus. Wieder flossen mir die Tränen. "Ich will nicht vergessen wie du aussiehst, oder Maverick oder Dad. Wieso vergesse ich das?" Ich schniefte.

Mom löste sich langsam von mir und nahm meine Hände in ihre. "Auch wenn du es nicht mehr sehen kannst, und auch wenn du es vielleicht vergisst," sagte sie, hob meine Hände hoch, führte sie zu ihrem Gesicht und legte sie an ihre Wangen, "...kannst du es immer noch ertasten. Vertraue auf deine Sinne, sie werden ein Bild in deinem Kopf malen. Und das bin dann ich. Oder dein Vater oder dein Bruder. Es kann jeder sein, mein Schatz." Sie machte eine Pause, während ich nur dasaß und die Nase hochzog. "Du hast zwar die Fähigkeit zu sehen verloren, aber du kannst noch immer spüren. Du kannst hören und fühlen. Das ist doch das Wichtigste. Zu hören und zu spüren was dir dein Herz sagt. Und ich bin mir sicher, darin bist du unschlagbar!"

Ich konnte hören wie sie lächelte. Ich konnte es spüren, mit meinen Fingern an ihren Wangen. Das gab mir Hoffnung. Hoffnung, dass ich nicht völlig verloren war. Es war die Hoffnung auf Hoffnung.

Aus anderen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt