Kapitel 38

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Alex' POV

Die Zeit war für mich schon immer ein beeindruckendes Phänomen. Unaufhaltsam und endlos. Manchmal schien die Zeit der schlimmste Albtraum zu sein.

Mir rannte sie quasi davon. Zeit mit Keaton. Schon morgen früh würde er in das Auto einsteigen und zu seinen Großeltern ziehen. Zurück blieb ich.

Während ich vor mehreren Wochen den Schritt in ein neues Leben gestartet hatte, als ich hierhergezogen war, würde Keaton es erst noch vor sich haben.

Wenigstens blieb eine ganze bestimmte Sache gleich. Wir. Wir blieben wir.

Keat hatte Angst; dachte ich würde wegen der Entfernung jetzt Schluss machen. Ich hatte hastig verneint.

„Auf gar keinen Fall werde ich deswegen Schluss machen," hatte ich ihm gesagt und ihn in den Arm genommen. „Egal wie weit du auch wegwohnst, ich liebe dich."

Jetzt war die bedrückte Spannung im ganzen Haus der Hales zu merken.

Während ich Keaton dabei half, seine letzten Sachen in die Kartons zu räumen, spürte ich die ganze Anspannung und Hektik von Maverick und Mrs. Hale. Und natürlich auch die von Keaton.

„Hey, woran denkst du?" fragte ich sanft und setzte mich neben Keat aufs Bett. Langsam lehnte er seinen Kopf an meine Schulter und seufzte.

"Im Grunde kenne ich meine Großeltern gar nicht," murmelte er. "Sie kamen uns nur an Weihnachten besuchen. Ihre Gesichter habe ich schon lange vergessen. Es sind fremde Leute für mich." Keat klang niedergeschlagen.

"Es ist ja nicht für immer, irgendwann findet ihr eine eigene Wohnung oder ein Haus, und weißt du was?"

Keat hob seinen Kopf ein wenig an, als würde er mich so besser verstehen können. Wahrscheinlich hatte ich aber einfach nur seine Neugier geweckt.

"Irgendwann, da werden wir beide zusammenziehen. Nur du und ich."

Auf seinem Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln. Ihm schien die Vorstellung von einem gemeinsamen Leben genau so gut zu gefallen wie mir.

"Das wäre ein Traum," antwortete er.

Ich konnte nicht anders, als ihm einen sanften Kuss auf seinen Kopf zu geben.

"Ein Traum der in Erfüllung gehen wird."

Schweren Herzens stand ich schließlich draußen und rieb mir nervös meine Hände an der Hose. Jetzt war es soweit. Keat würde gleich in das Auto steigen und sie würden fort sein...

Auch wenn ich wusste, dass es nicht für immer war, machte es mir Angst.

"So..." murmelte Maverick. Er hatte gerade den Kofferraum geschlossen. Er kam zu mir und Keaton, ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht wirklich deuten. Es war eine Mischung aus Emotionslosigkeit und Unsicherheit, doch ein kleines, aufmunterndes Schmunzeln zierte seine Lippen. "Ich denke, es ist so weit," sagte er und drückte kurz die Schulter seines Bruders, ehe er zu mir herübersah. Er reichte mir seine Hand.

Gerade als ich sie nehmen wollte, zog er sie wieder weg.

"Scheiß drauf," murmelte er und zog mich schließlich in eine kurze Umarmung, während er mir einmal auf den Rücken haute.

Einige Sekunden verharrten wir so, als ob niemand von uns wüsste, wann der Richtige Zeitpunkt war, die Umarmung zu lösen.

"Pass auf Keat auf," murmelte ich.

Als wir uns schließlich doch lösten, nickte er und stieg ins Auto.

Zurück blieben nur Keat und ich, etwas traurig blickte er in meine Richtung. Seine Mundwinkel hingen nach unten, in seinen farblosen Augen spiegelte sich eine stumme Melancholie, ein Reservoir unterdrückter Tränen und ungesagter Worte. Fest nahm ich Keat in meine Arme und wollte ihn am liebsten nie wieder loslassen.

"Ich vermisse dich jetzt schon," murmelte er.

Ich konnte hören, dass er die Tränen zurückhielt. Genau das gleiche tat ich in diesem Augenblick auch.

"Ich liebe dich, und das wird sich nie ändern. Egal, wie weit du auch wegwohnen wirst. Bis ans Ende der Welt, schon vergessen?"

Gedämpft hörte ich ihn leise Kichern. "Und ich liebe dich."

Langsam lösten wir uns aus der Umarmung und ein letzter, sanfter Kuss auf seinen Lippen bestätigte jedes Wort, das ich sagte und genau so meinte.

Dann vernahmen wir ein Räuspern. Wir lösten uns aus dem Kuss.

Maverick hatte das Fenster runtergekurbelt und schien beinahe schon belustigt zu uns zu sehen.

"Es gibt da einen Unterschied zwischen sich küssen und Erwachsenenunterhaltung in der Öffentlichkeit." Maverick musste lachen. Das Fenster schloss sich wieder.

"Halt die Klappe, du machst den Moment kaputt!" rief Keaton ihm hinterher, ob er das aber noch gehört hatte, wusste ich nicht.

Ich sah Keaton einfach nur noch für einen Moment lächelnd an und versuchte mir jedes Detail seines Gesichtes einzuprägen. Vielleicht, weil ich jetzt endlich die Angst von Keat verstand, wenn man die Gesichter von den Menschen vergaß, die man liebte.

"Bis ans Ende der Welt..." wiederholte Keat meine Aussage von vorhin, ehe er in das Auto einstieg.

Sobald der Motor startete und das Auto von der Einfahrt fuhr, zog sich etwas schmerzhaft in meiner Brust zusammen. Ich brauchte Keaton hier. Ich konnte mich nicht der Realität entgegenstellen. Nicht alleine. Ich brauchte Keaton, weil ich mich weiterhin hinter dem schönen Gefühl der rosaroten Brille verstecken wollte. Ich konnte nicht akzeptieren, dass die Welt ohne Keaton an meiner Seite gar nicht so wunderbar war, wie ich dachte.

Keaton, der Junge mit den farblosen Augen, war ein ganzer Regenbogen in meiner grauen Welt. Nur er hatte aus dem Grau endlich wieder etwas Buntes gemacht. Doch jetzt, da ich dem Auto hinterher sah, es immer kleiner wurde, schienen alle so kräftigen Farben zu verblassen.

Mit hängenden Schultern und einem gesenkten Blick betrat ich an diesem Mittag mein Zuhause.

"Da bist du ja, Darling. Das Essen ist jeden Moment fertig!" begrüßte mich Mom, doch ich war nicht in der Stimmung mich mit ihr zu unterhalten. Genau so wenig hätte ich etwas essen können.

"Hab keinen Hunger," murmelte ich nur und ging ohne auf eine Antwort zu warten in mein Zimmer.

Was sollte ich jetzt bloß machen? Ohne Keat fühlte sich alles auf einmal so kalt an. Es war im Prinzip nichts anderes, als wenn ich Keat abends nach Hause brachte und alleine wieder zurückging, doch jetzt wusste ich, dass wir uns am nächsten Morgen nicht wiedersehen würden. Dass wir uns auch am zweiten und am dritten Tag nicht sehen würden.

Und diese Erkenntnis schien mich aufzufressen. Ich zog mir an den Haaren und wollte endlich, dass ich aufhörte, mich so schlecht zu fühlen. Wieso konnte all das nicht so bleiben wie es war? Wieso musste es sich verändern und wieso kam ich damit alles andere als gut klar?

Aus anderen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt