Kapitel 3

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Keaton's POV

Harry war ein Arschloch, doch er hatte mit jedem Wort, das er mir je an den Kopf geworfen hatte, recht. Still ließ ich seine nächsten Worte im Flur über mich ergehen.

Zu meiner Verwunderung versteifte sich Alex neben mir, ehe er mich verteidigte. Alex kannte mich seit heute Morgen und trotzdem verteidigte er mich; beschützte mich vor diesen so verletzenden Worten.

Ich wollte mich bedanken, aber ich blieb still. Selbst als wir in der Klasse ankamen, hing ich in meinen Gedanken fest.

"Ist alles okay?" fragte Alex im Flüsterton. Er stupste mich leicht am Ellenbogen an. Ich nickte nur. "Ähm... Danke," sagte ich irgendwann doch. Ich wünschte mir, seinen Gesichtsausdruck jetzt sehen zu können.

"Macht dieser Harry das öfter?" fragte er weiter.

Ich ließ meine Schultern hängen. "Nur wenn mein Bruder nicht dabei ist. Du hättest das nicht zu ihm sagen müssen." "Doch das musste ich. So wie er dich behandelt ist das nicht in Ordnung." Alex schien aufgebracht, das konnte ich in seiner Stimme hören. Wenn ich so darüber nachdachte hatte Alex eine sehr angenehme Stimme. Dunkel und etwas kratzig, aber doch irgendwie sanft.

Ich zuckte mit den Schultern und spielte mit dem Blatt Papier vor mir, in dem ich die Ecken umknickte und wieder auffaltete. "Ich meine... er hat ja recht."

Alex sog scharf die Luft ein. Ich spürte, wie er seine warme Hand auf meine legte. Sie war weich und größer als meine. Doch schon zog er sie wieder weg. „Sorry, ich hätte dich vorher fragen sollen." „Ist schon in Ordnung."

Kurz entstand eine Pause.

"Nein, das hat er nicht. Wie kommst du darauf, dass er recht haben könnte?" Alex schien geschockt, aber es war eben wahr. Harry sagte mir öfter, dass ich nicht alleine leben könnte, dass ich eine Belastung für andere wäre, dass meine Familie wegen mir leiden würde und sich alles nach mir drehen und richten müssen. Das stimmte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann meine Eltern das letzte Mal alleine Aus

waren, oder mein Bruder auf eine Party ging und erst am nächsten Morgen nach Hause kam.

Sie alle gaben ihre Freizeit auf um mich zu unterstützen.

Auch wenn ich ihre Hilfe nicht immer brauchte, war ich unendlich dankbar dafür.

Seitdem Harry diese Sachen über mich sagte, fühlte ich mich jedoch schlecht deswegen. Ich wollte nicht schuld daran sein, dass meine Familie so viel wegen mir aufgab.

Ich antwortete Alex nicht, auch wenn ich es in dem Moment wollte. Es tat weh darüber zu reden. Hätte ich jetzt darüber geredet, wäre ich wahrscheinlich in Tränen ausgebrochen. Ich hatte Angst, dass Harry demnächst auch noch Heulsuse oder so etwas zu mir sagen würde. Deswegen blieb ich still, hörte auf das Blatt zu knicken und Alex beließ es dabei.

Zum Ende der Stunde gab der Lehrer uns Hausaufgaben und wir durften gehen. "Soll ich dich wieder begleiten?" fragte Alex.

Die ganze Zeit über war es zwischen uns still geblieben. In dem Moment als ich antworten wollte, spürte ich die Hand meines Bruders auf meiner Schulter. Er ging um den Tisch herum und stand nun vor mir. "Da bin ich, sorry wegen heute Morgen. Konnte dich jemand begleiten?" fragte er.

Ich tastete nach meiner Tasche und stand auf. "Ja. Alex neben mir war so freundlich." Ich konnte nicht anders, als kurz zu lächeln. Ich hoffte einfach, dass Alex noch dort stand, denn ich hörte ihn nicht mehr.

Kurz blieb auch mein Bruder still. Ich wusste nicht, wieso. Schließlich sagte er: "Cool." Es klang nur halb so freundlich, wie ich es sonst von ihm kannte. Es klang eher wie das Gegenteil von freundlich. Als würde er Alex auf den Tod nicht leiden können. "Na dann komm," sagte Maverick. Er begleitete mich nach draußen.

"Was war das gerade?" fragte ich, als ich an meinem Platz vor dem Stein angekommen war. "Was war was?" Ich konnte förmlich hören, wie er mit den Schultern zuckte. "Du warst so still, als ich dir Alex vorgestellt habe," sagte ich und sah in die Richtung, in der mein Bruder stand. "Er gefällt mir nicht," brummte er.

Ich lachte kurz auf. "Wieso das denn? Er ist nett." "Hast du gesehen wie er–" Augenblicklich stoppte er, als er merkte welche Formulierung er verwendet hatte.

Bevor er sich verbessern konnte, öffnete ich meinen Mund. "Nein, hab ich nicht." Ich verschränkte die Arme. "Wieso ist es überhaupt wichtig wie er aussieht? Es ist mir egal, wie er aussieht, weil ich es eh nicht sehen kann. Ich

kann ihn nur danach beurteilen, wie er sich mir gegenüber verhält und der Rest ist egal." Ich wurde sauer. Ich wusste, dass die meisten Menschen einen als erstes nach dem Aussehen beurteilten, und offensichtlich tat es Maverick auch und das störte mich. Er wusste genau, dass das Aussehen zweitrangig war, immerhin hatte er einen blinden Bruder.

"Wenn ich eines von Dad über Menschen gelernt habe, dann ist es sie zu lesen und glaub mir, wenn ich dir sage, dass Alex kein guter Mensch ist. Früher oder später wird er dich fallen lassen!" Auch Maverick schien wütend zu werden, doch das war mir egal.

"Meinst du er ist ein schlechter Mensch, weil er so aussieht? Hat er vielleicht gefärbte Haare oder Tattoos? Ist er deswegen gefährlich?"

"Du verstehst das nicht, ich will dich nur beschützen!" Ich verdrehte die Augen. "Das ist es! Alle behandeln mich als wäre ich aus Porzellan. Ihr alle solltet mal eure scheiß Samthandschuhe ausziehen! Ich bin vielleicht blind aber nicht komplett hilflos. Ich kann mir mein Essen selber klein schneiden oder mir was zu trinken eingießen, das müssen nicht immer du oder Mom und Dad für mich machen! Ich bin kein Kind mehr. Lass mich meine Fehler machen, die gehören zum Leben dazu, du kannst mich nicht vor allem beschützen!" rief ich. Stille umhüllte mich. Es schien, als wäre Maverick verschwunden. Ich wartete, ob vielleicht doch noch eine Antwort kam, doch sie kam nicht. "Maverick?" fragte ich. Mein Bruder war weg. Ich verdrehte erneut die Augen. War das sein scheiß Ernst?

Mit "Ich bin nicht hilflos" meinte ich Sachen wie sich anziehen oder zu essen, aber nicht alleine zurück zur Klasse zu laufen, und das ohne Blindenstock. Das wäre in etwa so als würde ein Sehender in einem lichtlosen Raum umherirren, ohne zu wissen ob eine Treppe kam oder irgendwelche Möbel und Hindernisse herumstanden.

Als es klingelte seufzte ich und hievte mich nach oben, griff zu meiner Schultasche und atmete tief ein und aus. Okay, Keaton, du packst das, du musst es nur ins Gebäude schaffen, dann ist der Rest nicht mehr so schwer, redete ich mir ein und betete, dass es funktionierte. Langsam tastete ich mit meinen Händen die Gegend vor mir ab und ging Schritt für Schritt in die Richtung aus der ich vorhin mit Maverick gekommen war. Ich hatte einige Wege gelernt, stellte sie mir auf meine eigene Weise vor, durch das was ich ertastete oder wie sich der Boden anfühlte. Das schien mir hier auf einmal kaum zu helfen, ich hatte die Orientierung verloren und stand wie ein Bescheuerter mitten auf dem Schulhof.

"Haben dich alle allein gelassen? Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst!" Ertönte die Stimme, die ich am meisten verabscheute. Lachen folgte, welches mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

Ich wollte protestieren, doch ich wusste nicht mehr wo ich war. Mir blieb nichts anderes übrig, als Hilfe von Harry anzunehmen.

Aus anderen AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt