Scipio, 30.05.2000
Seine Mutter hatte ihn verlassen, beide Söhne bei diesem Monster zurückgelassen. Alles, was von ihr übrig war, war das kleine weiße Taschentuch, das ihren Duft über die Jahre eingefangen hatte. Er vermisste sie so sehr, dass sein Herz zu zerreißen drohte. Er erstickte seine Tränen, damit sein Vater nichts davon merkte. Doch er dachte jeden Tag an sie.
Scipio, 30.05.2022
Jetzt, wo die Kameras angebracht sind, steht dem Plan nichts mehr im Wege, außer den tausend Dingen, die noch schiefgehen könnten. Aber damit kann ich mich jetzt nicht aufhalten. Ich muss mich darauf konzentrieren, Helen für mich zu gewinnen, wenn ich meine eigene Haut retten will. Ich beobachte sie jetzt schon ein paar Wochen lang von meinem Wagen aus, bisher hat sie nichts bemerkt. Aber das Beobachten, auch wenn wir es jetzt mit Kameras tun, reicht mir nicht mehr, ich muss näher an sie herankommen, damit unser Plan noch besser funktionieren kann. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, bis ich dafür gesorgt haben muss, dass sie mich vergöttert und mir vertraut, und das funktioniert eindeutig besser, wenn sie mich mag. Ich denke, ich werde es nicht schwer haben, bei ihr zu landen, weil ich, ohne arrogant klingen zu wollen, ziemlich heiß aussehe und sehr charmant sein kann, vor allem, wenn ich ein Ziel verfolge. Auf den Kopf gefallen bin ich auch nicht, die Aktion sollte eigentlich schnell erledigt sein. Vielleicht ein, zwei Treffen, und sie wird für mich schwärmen. Sie muss es einfach tun. Wenn dieser Plan nicht aufgeht, dann bin ich geliefert. Und damit meine ich nicht, dass ich in den Knast wandere; mich wird eine Hölle auf Erden erwarten, sollte etwas an der Aktion schiefgehen. Ich stehe in der Schlange hinter ihr und atme ihren Duft ein. Sie riecht wie ein Blumenfeld, das in der kühlen Sommerluft... Halt mal, was zur Hölle war das denn gerade? Ich habe sie wahrscheinlich schon zu oft durch diese verdammte Kamera in ihrem Schlafzimmer beim Umziehen beobachtet. Ich muss zugeben, das Material, das über diese Kamera läuft, kann nur als Vorlage für meine nächtlichen Einsamkeitsanfälle dienen. Scheiße, ich muss mich konzentrieren und darf das übergeordnete Ziel nicht aus den Augen verlieren. „Einen großen Kaffee, bitte, ohne Milch und Zucker", sagt sie gerade, als ich seinen Blick bemerke. Der Kassierer starrt so unverwandt auf ihre Brüste, dass ich verlockt bin, ihm die Pupillen mit einem Strohhalm aus den Augen zu stanzen. Fuck! Konzentration, Scip! „Dasselbe für mich", stoße ich mit zusammengepresstem Kiefer hervor. Ich trete neben Helen, als sie gerade ihren Kaffee entgegennimmt und nach ihrem Geldbeutel sucht, den ich ihr vorhin geschickt aus der Tasche genommen habe, als sie sich die Kaffeetassen im Regal angeschaut hat. Jetzt ist mein Moment, um als Retter der Situation einzuspringen. Während ich näher an sie heranrücke, denke ich über die vergangenen Wochen nach. Ich habe lange recherchiert, um das perfekte Opfer zu finden. Ich habe mich so lange mit ihr und ihrem Leben beschäftigt, dass es mir vorkommt, als würden wir uns schon ewig kennen. Ihre Technik habe ich schon seit einer Weile über Remote Control im Griff; ich weiß also, wann Fiona „eintrifft", ich kenne die wenigen Freunde und Bekannten, die Helen hat, und ich kenne den spärlichen SMS- und Anruf-Verlauf zwischen ihr und ihrem Vater. Ich weiß, wo sie dieses Jahr Urlaub gemacht hat, kenne ihren Stundenplan, den Stand ihrer Doktorarbeit, ich weiß, welchen Weg sie zur Universität fährt, wo sie ihr Auto parkt, wie lange sie abends in der Bibliothek bleibt. Ich kenne ihre Lieblinge aus dem Tierheim; die ganze Fotomediathek ist voll von ihnen. Ich kenne ihre Probleme und Geheimnisse, da sie jeden Tag in der Notizen-App auf ihrem Handy einen Tagebucheintrag formuliert. Mit dem, was da drinnen steht, könnte ich ihren Vater auf ewig in den Knast wandern lassen.
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Lord of Lies
Mystery / ThrillerHelen gerät in das dunkle Netz einer gefährlichen Gang, doch nicht alles ist, wie es scheint. Während sie versucht, die Wahrheit von der Täuschung zu trennen, entfaltet sich zwischen ihr und ihrem scheinbaren Widersacher eine unerklärliche Verbindun...