Helen, 14.06.2000
Es war der Geburtstag ihrer Mutter. Unten im Garten wurde eine große Party veranstaltet, darüber war sie froh, denn so konnte sie sich in ihr Zimmer zurückziehen, um zu spielen. Leider bedeutete das auch, dass sie Jack zum Spielen mit in ihr Zimmer nehmen musste. Sie mochte ihn nicht leiden, er war immer sehr aggressiv und machte sich ständig an ihrem Spielzeug zu schaffen. Gerade als sie darüber nachdachte, wo sie ihre liebste Puppe vor ihm verstecken konnte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie er ihr ein Knopfauge herausriss und höhnisch lachte. Helen fing an zu weinen, die Puppe hatte sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen und sie bedeutete ihr sehr viel.
Helen, 14.06.2022
In der Bibliothek ist es still, auf meinem Platz stapeln sich so viele Bücher, dass ich meinen Laptop auf den Schoß nehmen muss. Ich habe die Beine über die Sessellehne geschlagen und tippe scheinbar konzentriert Satz für Satz meiner Doktorarbeit. Meine Gedanken wandern immer wieder zu Scipio, und es fällt mir ungewöhnlich schwer, mich zu konzentrieren. Es ist zwar schon ein paar Tage her, dass wir uns getroffen haben, ich kann ihn mir aber einfach nicht aus dem Kopf schlagen, und das, obwohl ich die Uhr förmlich ticken hören kann. Die Zeit bis zur Abgabe wird knapp, und das Endkapitel steht erst in den Grundzügen. Deshalb habe ich auch noch nicht die Zeit gefunden, ihn anzurufen, obwohl ich es so gerne getan hätte. Was ist, wenn er sich gar nicht mehr an mich erinnert, wenn ich ihn anrufe? Nachdem sich meine Gedanken einige Minuten im Kreis gedreht haben, beschließe ich, dass ich eine Ablenkung brauche, und stehe auf, um in der Bibliothek umherzuwandern. Dabei treffe ich auf zwei weitere Studenten, die ebenfalls in den Bücherregalen stöbern, und lächle sie an. Sie nicken mir zu und laufen an mir vorbei. Ich fahre mit meiner Hand an den Buchrücken im Bücherregal neben mir entlang. Bücher sind etwas, das ich schon seit meiner Kindheit faszinierend fand. Es steckt so viel Wissen in ihnen, in dieser Bibliothek und allen Bibliotheken auf der ganzen Welt, einfach unvorstellbar. Aber allein das Gefühl, ein Buch in der Hand zu halten, den Buchrücken knacken zu hören. Es ist, als würden Bücher versuchen, uns zu umarmen, indem sie uns in sich aufsaugen. Okay, ich denke, da spricht definitiv der Schlafmangel aus mir. Aber da ist noch ein Gefühl, so als hätte jemand Watte über meine Ohren gestülpt. Ich fühle mich benommen. Nachdem ich ein paar Minuten durch die Gänge gelaufen bin, unternehme ich einen weiteren Versuch, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich nehme einen tiefen Schluck Wasser aus meiner Wasserflasche und hoffe, dass ich mich danach besser fühle. Als es mir auch nach einer Viertelstunde nicht besser geht, packe ich meine Sachen langsam zusammen und mache mich auf den Weg nach Hause. Ich habe den Wagen in derselben Straße geparkt, wo er immer steht, und laufe den knirschenden Kiesweg entlang. Die frische Luft und der Spaziergang tun mir gut, obwohl meine Tasche sich durch das Gewicht der Bücher anfühlt, als würde ich einen Haufen Steine schleppen. Aus der Ferne kann ich nur erkennen, dass jemand auf dem Boden liegt. Meine Schritte werden schneller, und ich lasse meine Tasche instinktiv auf den Gehweg fallen. Über der Person, die auf dem Boden liegt, kniet ein Mann. So wie er sich bewegt, sieht es aus, als wüsste er, was er tut. Je näher ich komme, desto bekannter kommt mir die Statur vor. Und ich habe recht, Scipio hat Handschuhe an, lehnt sich über den zusammengesunkenen Mann und holt weitere Dinge aus seiner Jackentasche, unter anderem Desinfektionsmittel und Mullbinden, um ihn zu versorgen. Ich renne auf die beiden zu, während ich gleichzeitig darüber nachdenke, was für ein sonderbarer Zufall es ist, dass Scipio ausgerechnet hier, ausgerechnet jetzt in diese Situation verwickelt ist. Ist das etwa ein Wink des Schicksals? Ist es vorbestimmt, dass wir uns genau heute nochmal treffen und den Funken, den wir beide beim ersten Treffen gespürt haben, wieder aufleben lassen?
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Lord of Lies
Mystery / ThrillerHelen gerät in das dunkle Netz einer gefährlichen Gang, doch nicht alles ist, wie es scheint. Während sie versucht, die Wahrheit von der Täuschung zu trennen, entfaltet sich zwischen ihr und ihrem scheinbaren Widersacher eine unerklärliche Verbindun...