Helen, 30.05.2000
Ihre Mutter schimpfte sie, aufrecht zu sitzen. Für Helen's Eltern gab es nichts, das schlimmer war, als sich nicht benehmen zu können. Das hatte sie schon früh lernen müssen. Gerade waren Geschäftspartner ihrer Eltern zu Besuch. Das wusste sie, da ihre Eltern vorhin in der Küche darüber gesprochen hatten. Helen verstand nicht, weshalb sie diese Leute als Freunde bezeichneten, obwohl ihre Eltern immer schlecht über sie redeten. Aber das war vermutlich etwas, das sie erst verstehen würde, wenn sie auch erwachsen war.
Helen, 30.05.2022
Wir setzen uns vor dem kleinen Café an einen Tisch und starren uns einige Sekunden nur in die Augen. Eigentlich hätte ich mich schon vor fünf Minuten auf den Weg zurück zur Uni machen sollen, denn genauso wenig, wie der Kaffee sich von allein bezahlt, schreibt sich auch meine Doktorarbeit nicht von Geisterhand. „Lass mich raten...", sagt er mit einem Grinsen, das mich nach Luft schnappen lässt. Seine Zähne bilden eine strahlend weiße Reihe, die seinem Lächeln eine hypnotische Wirkung geben. Wow, ich bin ja wirklich hin und weg von diesem Typen, und das in ganzen vier Minuten, die wir uns schon kennen. Was ist bloß los mit mir? „Du hast wenig geschlafen, in deinem Leben verfolgst du eine wichtige Aufgabe, von der deine Zukunft abhängt und die dich extrem stresst. Wenn du nach Hause kommst, bist du so müde, dass du dich kaum zum Kochen aufraffen kannst, das Geschirr stapelt sich, und außerdem wartet ein Haufen anderer Hausarbeiten auf dich, die du seit Tagen vor dir herschiebst." Es ist wirklich gruselig, wie genau er damit meine Situation beschreibt. Es ist, als hätte er mir seit heute Morgen beim Leben über die Schulter geschaut. „Echt krass, wie genau du gerade meinen ganzen beschissenen Tag beschrieben hast. Stalkst du mich oder so?", sage ich lachend. Mein Blick fällt beiläufig auf seine starken Hände, auf dessen Knöcheln sich kleine Narben abzeichnen und weiß hervortreten, weil er den Kaffebecher umfasst. Das führt auch dazu, dass die Adern in seinen Unterarmen stärker hervortreten, auf denen mein Blick mehrere Sekunden haftet. „Stimmt was nicht mit meinem Arm?", fragt er mich grinsend, und ich werde ganz schön nervös, weshalb meine Stimme auch unmerklich zittert, als ich ihn frage: „Woher hast du die Narben auf deinen Händen?". Er lacht kurz auf und sieht mir intensiv in die Augen. „Ich dachte, wir bleiben erstmal bei den einfachen Fragen, zum Beispiel: Was machst du beruflich, oder hast du Haustiere?". Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und kreuzt die Arme vor der Brust, was dazu führt, dass sich sein Bizeps in seinem tiefschwarzen T-Shirt anspannt. Mir bleiben die Worte fast im Hals stecken, aber dann kann ich mich doch fangen. „Das nennst du eine einfache Frage? Meine momentane berufliche Perspektive besteht hauptsächlich darin, mich ausbeuten zu lassen und für weniger Geld, als mir eigentlich zusteht, fachliche Arbeit zu leisten, die sich das Krankenhaus gar nicht leisten könnte, wenn meine spätere Karriere nicht davon abhängen würde, jetzt den Duckling zu spielen." Er betrachtet mich amüsiert, wobei er schnell wieder seinen intensiven Blick direkt in meine Augen richtet. Seine Augen strahlen regelrecht, obwohl sie dunkelbraun, eigentlich fast schwarz sind. Die Grübchen, die sich um seine Augen bilden, als er mich anlächelt, lassen mich nervös nach meiner Kaffeetasse schnappen, sodass ich den Blick abwenden kann, ohne verlegen zu wirken. „Was machst du beruflich?", frage ich, während ich einen Blick auf seine muskulöse Brust riskiere, die durch das eng anliegende T-Shirt deutlich hervortritt. In meinem Leben habe ich schon viele Männer getroffen, aber keiner von ihnen hatte jemals so eine starke Wirkung auf mich. Er ist so charismatisch, wirkt so anziehend und selbstbewusst. Er weiß genau, was er tut, und er hat mich völlig in den Bann gezogen mit seiner Ausstrahlung. So sehr, dass ich mir wünsche, ewig hier mit ihm zu sitzen.
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Lord of Lies
Mystery / ThrillerHelen gerät in das dunkle Netz einer gefährlichen Gang, doch nicht alles ist, wie es scheint. Während sie versucht, die Wahrheit von der Täuschung zu trennen, entfaltet sich zwischen ihr und ihrem scheinbaren Widersacher eine unerklärliche Verbindun...