Kapitel 15 - Scipio

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Scipio, 04.08.2017

Die Brüder unterhielten sich nächtelang darüber, was sie in ihrem Leben besser machen wollten. Was sie anders machen wollten als ihre Eltern. Sie wollten Menschen helfen. Sie wollten gute Menschen werden. Sie kämpften sich jeden Tag durch und als sein Bruder mit einem Stipendium auf der Polizeiakademie angenommen wurde, machten sie Freudensprünge. Scipio war zum Militär gegangen, er hatte kein Geld, kein Zuhause und keine andere Wahl gehabt. Als er das Angebot bekam, das Militär zu verlassen und Medizin zu studieren, konnte er sein Glück kaum fassen. Er würde auch eine Chance auf Glück haben. Es sollte sich jedoch herausstellen, dass die C.REAPER einen hohen Preis dafür verlangten.

Scipio, 04.08.2022

Wir ziehen uns alle in den großen Raum hinter den verrosteten Hallentore zurück, um das Lösegeld zu zählen. Wenn auch nur ein Schein fehlt, wird Belial ausrasten und eines der Opfer umlegen, und nachdem ich ihm gerade so offen gezeigt habe, wie viel mir an Helen liegt, wird er mit ihr anfangen. Am liebsten würde ich direkt zu ihr stürzen und ihre Wunden versorgen. Es sind nur Schürfwunden und Blutergüsse, aber ich will ihr helfen. Immerhin besteht das Risiko, dass sich ihre Wunden entzünden, weil sie auf den verdreckten Boden gefallen ist, und wer weiß, ob Scherben oder Metallsplitter in die Wunde gelangt sind. Verdammte Scheiße, wie soll ich es nur schaffen, sie hier sicher wieder rauszubringen. Uns hier rauszubringen. Ich fange immer wieder mit dem Zählen an, aber meine Gedanken schweifen ab. Ich spüre einen starken Druck an meiner Schulter; Belial hat die Hand daraufgelegt. „Hör zu, Scipio. Wenn du dich nicht konzentrieren kannst, atmest du am besten ein bisschen Frischluft durch den Filter und kommst dann wieder zurück. Wenn ich dich heute noch einmal zurechtweisen muss, dann wird das Mädchen die Konsequenz daraus ziehen. Und komm bloß nicht auf die Idee, nach ihr zu sehen.", Belial atmet langsam und geräuschvoll ein und lässt sich dann grinsend an meiner Stelle auf meinen Platz sinken. Ich kämpfe gegen das übermächtige Bedürfnis an, doch den Weg durch die große Halle zu gehen und nach Helen zu sehen. Stattdessen gehe ich durch einen Nebentrakt, der von einem Feuer erfasst worden sein muss. Das, was von dem Raum noch übrig ist, ist pechschwarz und verkohlt, die Decke ist eingebrochen und der Schutt ist von Pflanzen überwachsen. Ich stelle mich vor den Eingang des Nebentraktes, zünde tatsächlich eine Zigarette an und schließe die Augen. Das Geräusch ist so leise, dass es fast nicht zu hören ist. Ein leises Rascheln, etwas, das sich durch das Gestrüpp kämpft, oder jemand? Ich öffne die Augen und bewege mich langsam auf das Geräusch zu. Es ist so dunkel, dass ich kaum etwas erkennen kann, aber dann sehe ich einen Schatten, der um eine Ecke huscht. Und dieser Schatten ist Helen. Ich bin wütend auf sie und verletzt, weil sie mich hier zurücklassen wollte. Gleichzeitig bin ich unendlich erleichtert, dass sie es irgendwie geschafft hat, sich zu befreien. Ich schleiche ihr hinterher; in meiner Zeit beim Militär habe ich gelernt, mich absolut geräuschlos zu bewegen. Sie bewegt sich sehr langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, daher ist es für mich einfach, sie einzuholen. Als ich nah genug an ihr dran bin, lege ich eine Hand um ihren Mund, damit sie nicht schreit. Ich drehe sie mit einer schnellen Bewegung zu mir um, damit sie weiß, dass ich es bin. Dann lege ich den Zeigefinger an meine Lippen und löse die Hand von ihrem Mund. Sie bleibt still. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll; mir gehen tausend Fragen durch den Kopf. „Lass uns zusammen von hier abhauen.", flüstere ich und schaue in ihre smaragdgrünen, katzenartigen Augen, um nach einer Antwort zu suchen, die mich nicht zerstören wird. Sie wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Willst du mich verarschen, Scipio? Wie käme ich dazu, dir nochmal zu vertrauen?", versuche ich mir meine Verletztheit nicht anmerken zu lassen. Für sie ist es unmöglich zu wissen, ob ich sie den C.REAPERn ausliefern würde, wenn sie mit mir geht, aber ich bin der einzige, der sie in Sicherheit bringen kann und ihr auch in Zukunft ein gutes und sicheres Leben bieten kann.

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