Kapitel 11 - Helen

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Helen, 03.08.2014

Sie schlichen in ihr Zimmer. Jack war betrunken und achtete nicht auf seine Schritte. Auf der massiven Marmortreppe fiel er fast hin, doch Helen stützte ihn, während sie ihm klarmachte, dass er leise sein musste. Mochte sie ihn überhaupt? Oder war es so wie mit den Geschäftspartnern ihrer Eltern, die sie nie ausstehen konnten? Ihre Eltern würden niemals einen anderen Jungen als Jack Vandervolt in ihrem Leben akzeptieren, es hatte also keinen Sinn, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Ohne die Vandervolts wären ihre Eltern im Gefängnis und Helen im Kinderheim gelandet, sie verdankten ihnen alles.

Helen, 03.08.2022

Er nimmt das Seil zwischen seine perfekten, strahlend weißen Zähne, wirft mir einen intensiven Blick zu und bindet meine Hände mit meinen Beinen zusammen. Ich starre, wie hypnotisiert, in seine Augen, die in der herannahenden Dunkelheit fast schwarz erscheinen. Da die einzige logische Erklärung für diese Situation darin besteht, dass Scipio von einem bösen Dämon besessen ist und das hier alles nur ein Albtraum ist, passt das hervorragend. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden, seine kontrollierten Bewegungen, die seinen muskulösen Körper an den unterschiedlichsten Stellen anspannen, lassen mein Herz schneller schlagen. Seine starken Hände zurren das Seil fest, während er mich nicht aus den Augen lässt. Habe ich mich gerade wirklich dabei ertappt, wie ich auf meinen Entführer abfahre? Diese ganze Situation ist extrem verwirrend für mich, vor allem, weil ich nicht unterscheiden kann, ob mein Herz wegen des Zeugs klopft, das er mir verabreicht hat, oder seinetwegen. Fühle ich mich benommen, weil er mich in der Hand hat und ich meine Gefühle für ihn nicht kontrollieren kann? Oder wegen der Nachwirkung des Mittels? Wenn er mich nicht festgebunden hätte, wäre ich dann weggelaufen? Oder würde ich ihm die Chance geben, mir das alles zu erklären? „Bitte versuche dich ruhig zu verhalten, Helen. Ich verspreche, dir passiert nichts, wenn du genau das tust, was man dir sagt." Er zieht eine Augenbraue in die Höhe, als er den Ausdruck in meinen Augen sieht. „Ich gebe einen Scheiß auf deine leeren Versprechen!", schreie ich ihn überraschend an. Damit habe selbst ich nicht gerechnet, ich hatte eher gedacht, ich würde weinen oder ängstlich reagieren. „Du hast mich die ganze Zeit über angelogen, wahrscheinlich schon von der ersten Sekunde an! Wie lange hast du diese Nummer hier schon geplant?!", bricht es aus mir hervor. Er atmet tief ein und sieht mich einige Sekunden lang zerknirscht an. Man merkt ihm an, dass ihn die Situation zermürbt, aber egal, welche Erklärung diese ganze Sache hat, es würde sein Verhalten niemals rechtfertigen. „Der Plan steht schon seit Monaten", immerhin ist er ehrlich. „Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet, ich bin bei dir eingebrochen und habe Kameras in deinem Haus aufgestellt, dabei habe ich auch zum Vergnügen eine eigene in deinem Schlafzimmer platziert. Jede deiner Routinen habe ich bis aufs letzte Detail auswendig gelernt, ich wusste, wo du deinen Wagen abstellst, welchen Weg du einschlägst, wenn du zur Uni und zurück zum Auto läufst. Ich wusste, wann und wo du dir Kaffee holst, ich wusste, wie viel Zeit du jede Woche in der Bibliothek verbringst, im Tierheim und Zuhause. Ich weiß, wer bei dir putzt, ich kenne die wenigen Freunde, die du hast, ich kenne die Biografien deiner Eltern und Geschwister und auch deine auswendig, ich weiß, auf wie vielen Wohltätigkeitsevents du dieses Jahr warst, und ich habe dir bei unserem ersten Kennenlernen deinen Geldbeutel abgezogen, damit du mit mir reden musst. Alles war akribisch geplant, sodass nichts schiefgehen kann. Nur meine Gefühle, die ich für dich habe, damit habe ich nicht gerechnet. Es fällt mir sehr schwer, das hier durchzuziehen, Helen. Daher mache es mir bitte nicht schwerer, indem du versuchst, mit mir zu reden", sagt er mit schwacher Stimme, während er sich über mich lehnt, um das Klebeband von der Rückbank zu nehmen und mich zum Schweigen zu bringen. „Meine einzige Aufgabe besteht jetzt darin, dich lebend aus dieser Situation wieder rauszuholen."

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