Kapitel 14 - Helen

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Helen, 03.08.2017

Sie hatte einfach nicht mehr weiter gewusst. Bevor sie überhaupt realisierte, was sie tat, hatte sie bereits die Nummer ihres Vaters gewählt und ihm von ihrer Lage erzählt. Das Gehalt reichte nicht für die Wohnkosten, die Therapieausbildung und den Doktor nebenbei. Das Geld, das übrig blieb, steckte sie vollständig in die Ausbildung. Nachdem sie eine Woche lang nur von Äpfeln gelebt hatte, die das einzige waren, das sie sich noch leisten konnte, hatte sie fieberhaft nach einer Lösung gesucht. Natürlich witterte ihr Vater sofort seine Chance und bot ihr Geld an, das an einige Bedingungen geknüpft war. Sie redete sich ein, dass ein oder zwei Anrufe im Monat ihr Vorhaben sich von ihrer Familie zu isolieren nicht boykottieren könnten. Sie redete es sich immer wieder ein.

Helen, 03.08.2022

Das Metall sehe ich nur aus dem Augenwinkel aufblitzen, als einer der Entführer mit einer Taschenlampe an uns vorbeiläuft. Es befindet sich ganz nah bei mir, und ich könnte es mir schnappen, wenn ich es irgendwie schaffen würde, den Stuhl, auf dem ich festgebunden bin, umzukippen. Ich muss die Ablenkung durch die Drohnen nutzen und beginne, mich mit meinem ganzen Körpergewicht heftig vor und zurückzuwerfen. Der Stuhl kippt nicht gleich, aber nach ein paar Versuchen schaffe ich es. Der Schmerz, als mein Gesicht völlig ungebremst über den verschmutzten Boden rutscht, durchfließt meinen Körper in schnellen, qualvollen Wellen. Aber der Sturz bringt mich mit meinen Händen nah genug an das abgebrochene, verrostete Stück einer Rasierklinge heran. Ich greife schnell danach und schließe meine Hand darum. Im nächsten Moment sind bereits zwei der Entführer damit beschäftigt, mich grob wieder aufzurichten. Als der Stuhl wieder steht, legt einer der Typen seinen Zeigefinger unter mein Kinn, um meinen Kopf anzuheben. Er dreht ihn langsam hin und her, um sich meine Wunden anzusehen. „Du hast wohl gedacht, du bist besonders schlau und versuchst abzuhauen. Hoffentlich lässt Belial mich dich hinterher erledigen, aber nicht bevor wir zwei unseren Spaß zusammen hatten.", flüstert er in mein Ohr und lässt mich nicht aus den Augen, als er sich zurücklehnt, ausholt und mir eine heftige Ohrfeige verpasst. Meine Finger verkrampfen sich um die rostige Rasierklinge, damit ich sie nicht fallen lasse, und sie schneidet in mein Fleisch. Scheiße, wie lange ist meine letzte Tetanus-Impfung her? Während ich die Klinge langsam aus der Wunde ziehe, wird dem Typen sein dreckiges Grinsen aus dem Gesicht gewischt, als Scipio ihn zu Boden wirft und auf ihn einprügelt. „Fass sie noch einmal an, und ich bring dich um, Arschloch!", schreit Scipio, holt wieder und wieder aus, Blut spritzt in alle Richtungen, und ich kann ein deutliches Knacken hören, bis der Anführer ihn schließlich am Hemd packt und auf die Füße zerrt. „Was soll die Scheiße, Scipio? Vorhin hab ich dich noch gelobt, und jetzt so eine Aktion? Willst du es dir endgültig mit uns verscherzen?" „Sie gehört mir, Belial, und jeder, der sie anfasst, ist tot. Der Deal war, dass wir bestimmen, was mit unseren Opfern passiert, nachdem die Aktion durch ist", bringt er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und wenn das so bleiben soll, beruhigst du dich jetzt! Sonst kümmere ich mich um die Kleine.", brüllt Belial, packt Scipio am Kragen und schubst ihn so heftig nach hinten, dass er fast das Gleichgewicht verliert. Obwohl jede Faser meines Gesichts wehtut, ich böse Wunden abgekriegt habe, er mich betäubt und hierher geschleppt hat, mich als sein Eigentum bezeichnet und gerade meinen Vater ausgeraubt hat, kann ich mich nicht davon abhalten, mich um ihn zu sorgen. Was ist nur los mit mir? Wie kann es sein, dass ich mich für das Schicksal eines so durch und durch bösen Menschen interessiere? Liegt das vielleicht daran, dass ich weiß, dass Scipio nicht wirklich böse ist? Ich weiß, in den letzten Wochen gab es echte Momente zwischen uns, echte Berührungen, Gespräche und auch echte Verliebtheit. Irgendwann in seinem Leben ist er vom richtigen Pfad abgekommen und hat keinen Ausweg mehr gesehen. Während ich noch in Gedanken versunken bin, ziehen sich alle in einen Bereich hinter zwei riesigen Hallentore zurück, in dem mehrere Tische aufgestellt sind. Sie werden das Geld zählen.

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