Kapitel 9 - Helen

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Helen, 03.08.2000

Helen saß in der Bibliothek, das Feuer prasselte im Kamin gemütlich vor sich hin. Sie spielte mit der einäugigen Puppe, Helga hatte es noch nicht geschafft das fehlende Auge wieder anzunähen. Am Telefon beschwerte sich ihr Vater lautstark über etwas. Es klang sehr ernst, daher horchte Helen genauer hin. Es schien um ein Abwassersystem zu gehen, was das genau war, wusste sie nicht. Aber der Mann am Telefon klang sehr ernst und machte ihrem Vater Vorwürfe.

Helen, 03.08.2022

Es ist jetzt einige Wochen her, seitdem Scipio sich so aufopfernd um mich gekümmert hat, als ich wegen Schlafmangels und Stress nach dem Arbeiten in der Bibliothek zusammengebrochen bin. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er nicht dagewesen wäre. Seitdem treffe ich Scipio fast jeden Tag, an dem er Zeit hat. Als Arzt ist es für ihn nicht immer einfach, Zeit zu finden, und die langen Schichten sind für ihn sehr anstrengend. Heute hat er eine Überraschung für mich geplant. Er wird mich nach seiner Schicht in der Klinik abholen, was genau er vorhat, hat er mir nicht verraten. Aber so wie ich ihn in den letzten Wochen kennengelernt habe, erwarte ich etwas Aufregendes. Es ist sehr schwer, an Scipio heranzukommen, er spricht kaum über seine Vergangenheit und präsentiert nach außen hin einen sehr harten Kern. Doch wenn ich ihn zum Lachen bringe, wenn ich ihn dabei ertappe, wie er mich ansieht, wenn er etwas erzählt, das seine Augen zum Strahlen bringt, kann ich den wahren Scipio sehen. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis er mir vertraut, aber ich habe nicht vor, so schnell aufzugeben, dafür mag ich ihn einfach zu gerne. Vielleicht ist es auch mehr als Sympathie, die ich für ihn empfinde. Er ist ein kluger, attraktiver und witziger Mann, und wenn ich bei ihm bin, habe ich das Gefühl, die ganze Welt um uns herum könnte in Flammen stehen, und er wüsste ganz genau, was zu tun ist. Er hat diese absolut souveräne und ruhige Ausstrahlung, aber er ist nicht emotionslos, sondern kann die Situationen kontrollieren und sich durchsetzen. Und auch wenn seine Worte manchmal hart klingen, weiß ich, was dahintersteckt. Ich bin gerade damit fertig, mich zu schminken, als ich die Türklingel höre. Ich springe auf und stürze zur Tür, die Hand am Türgriff halte ich kurz inne und atme einmal tief durch, bevor ich ihm die Tür öffne. Sein Anblick raubt mir für einen Moment den Atem. Scipio stützt sich mit der Hand am Türrahmen ab, wobei seine muskulösen Oberarme das weiße Hemd, das er trägt, auf Spannung bringen. Ein paar seiner dunklen Haare fallen ihm in die Stirn, sie sind noch leicht feucht, und ich kann den intensiven Duft seines Duschgels riechen. Er betrachtet mich einen Moment lang durchdringend mit seinen dunklen Augen, die durch das Licht, das aus dem Haus fällt, zu leuchten scheinen, oder liegt das daran, dass er mich ansieht? „Lässt du mich jetzt den Rest des Abends hier draußen stehen?", fragt er mich erschöpft lächelnd. Irgendetwas ist merkwürdig an seinem Tonfall, und er sieht noch angespannter als sonst aus, presst seinen Kiefer aufeinander und wirft ungeduldige Blicke im Raum umher. „Nein, natürlich nicht", sage ich und winke ihn herein.

Ich habe uns grünen Tee aufgebrüht. Als ich kurz in der Küche verschwinde, um uns Untersetzer zu holen, traue ich meinen Augen nicht, als ich aus dem Augenwinkel sehe, wie Scipio ein weißes Pulver in meinen Tee kippt. Ich bin völlig sprachlos und versuche mir nichts anmerken zu lassen, während meine zittrigen Hände nach den Untersetzern greifen. Eine Welt bricht für mich zusammen. Ich realisiere kaum, was gerade passiert ist. Vielleicht ist es auch nicht passiert und ich habe es mir nur eingebildet. Für mich ist Scipio der perfekte Mann, er ist einfühlsam, verständnisvoll, liebevoll. Es ist unvorstellbar, dass er so etwas tun würde. Vielleicht gibt es eine logische Erklärung dafür, vielleicht ist es auch nur ein Nahrungsergänzungsmittel. Vielleicht macht er sich seit dem Abend in der Bibliothek Sorgen um meinen Kreislauf und möchte mich nicht beunruhigen. Aber warum hat er es dann nur in meine Tasse geschüttet? Und wieso habe ich so ein komisches Gefühl im Magen, so als wollte ich mich übergeben. War der Vorfall in der Bibliothek etwa auch kein Zufall gewesen? Ich weiß nicht was ich denken soll, meine Gedanken kreisen. Wie ferngesteuert gehe ich Schritt für Schritt auf das Wohnzimmer zu.

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