Kapitel 13 - Helen

3 0 0
                                    

Helen, 03.08.2016

Sie würde Psychologie studieren, das hatte sie ihren Eltern beim Abendessen ins Gesicht gesagt. Sie wollten davon jedoch nichts hören. Sie blieben stur und beharrten darauf, dass Helen das Erbe ihres Vaters übernehmen sollte. Endlich fand sie den Mut ihm alles zu sagen, das sich seit ihrer Kindheit in ihr aufgestaut hatte. Die kriminellen Machenschaften, die seine grausamen Taten vertuschten, die er mit der Firma durchzog, ohne Rücksicht auf Verluste. Das versprechen ihrer Tochter an Jack Vandervolt, der sich ihr gegenüber ekelhaft benahm. Jedes zwanghafte Lächeln auf jeder heuchlerischen Wohltätigkeitsgala, an der sie teilnehmen musste. Einfach alles. Sie hatte genug, sobald sie an der Universität war, würde sie den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen.

Helen, 03.08.2022

Meine Hand- und Fußgelenke sind wundgescheuert. Ich versuche schon die ganze Zeit, mich aus den Seilen zu befreien, die Scipio mir angelegt hat, aber keine Chance. Ich sehe mich langsam um, nehme jedes Detail der heruntergekommenen und von Gestrüpp überwucherten Lagerhalle wahr: die eingeschlagenen Fenster, den von Wurzeln durchbrochenen, dreckigen Boden, die mit Graffiti beschmierten Wände, verstaubten Treppen und verbogenen Aufzugtüren. Ist das der Ort, an dem ich sterben werde? Wird Scipio sein Versprechen halten und mich befreien, nachdem er bekommen hat, was er braucht? Der Anführer der Truppe hat jedenfalls nichts davon erwähnt, und so wie ich ihn einschätze, würde er niemals Geiseln frei herumlaufen lassen, die ihn am Ende identifizieren könnten. Ich versuche, innerlich mit meinem Leben abzuschließen, lasse alles Revue passieren und stelle fest, dass ich nicht annähernd genug Zeit hatte, alles zu werden und zu tun, was ich wollte. Ich bin nicht verheiratet, habe nie Kinder bekommen, habe meine Ausbildung zur Psychotherapeutin oder meinen Doktor nicht abgeschlossen, meine Familie habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen, die unzähligen Friedensangebote meines Vaters habe ich weitgehend abgelehnt, bis auf das Haus inklusive Putzfrau. Nicht sehr konsequent, ich weiß, aber ich war einfach überfordert. Ich hätte mir niemals meinen Traum, Psychologie zu studieren, und ein Dach über dem Kopf gleichzeitig finanzieren können, hätte er es nicht getan. Im Gegenzug habe ich nicht jeden seiner Kontrollanrufe abgelehnt. Ich werde durch ein lautes Surren aus meinen Gedanken gerissen. Die Drohnen starten, das heißt, die Familien der Opfer wurden kontaktiert, und die Lösegeldsummen werden abgeholt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei nicht involviert wurde, um die Drohnen zu verfolgen, denn wenn es eins gibt, das reiche Eltern mehr lieben als ihre Kinder, ist es ihr Geld. Andererseits könnten sie sich auch eingeschüchtert haben lassen, mit den eigenen krummen Geschäften, die mit Sicherheit alle Familienmitglieder der hier anwesenden Töchter und Söhne am Laufen haben. Die Gesichter der anderen Opfer kommen mir zumindest bekannt vor; bestimmt habe ich sie auf einem der Wohltätigkeitsevents gesehen, auf die mein Vater mich gezwungen hat. Und jeder einzelne, der dort eingeladen ist, beruhigt sein schlechtes Gewissen mit einer hohen Spendensumme für absurd teure Krankenhausprojekte und Klinikinitiativen. Im Gegenzug können sie nachts ruhig schlafen, und ihre Kinder haben immer eine Aussicht auf einen lukrativen Job, bei dem sie nicht besonders viel Grips beweisen müssen. Zum Kotzen. Meine Familie ist nicht anders; mein Vater besitzt einen riesigen Chemiekonzern, der nur noch läuft, weil er die richtigen Kontakte pflegt; ansonsten hätte er schon etliche Male ins Gefängnis wandern können. Ich erzähle nie jemandem davon, weil es einerseits gefährlich ist, wie ich heute am eigenen Leibe erfahren durfte, andererseits will ich nicht, dass jemand denken könnte, ich sei wie er, denn ich bin nicht so. So skrupellos, so geldgierig und nur auf mein eigenes Glück fokussiert, oder? Warum habe ich dann sein dreckiges Geld angenommen, um mir meinen Traum zu verwirklichen? Durch die riesigen Fenster der Lagerhalle kann ich am Horizont die Drohnen erkennen, an denen die Last von mehreren tausend Geldscheinen hängt.

Lord of LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt