Scipio, 30.05.2000
Sein Vater hatte sich betrunken, um den Schmerz herunterzuspülen. Die Brüder waren in der Küche und wollten sich etwas zu Essen aus dem Kühlschrank nehmen, doch darin herrschte gähnende Leere. Als sie sich aus der Küche schlichen, warf einer von ihnen einen Topf herunter, der laut krachend zu Boden fiel. Ihr Vater wartete wankend im Türrahmen, versuchte sich den Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose zu ziehen. Doch sein Körper war so betäubt, dass er nicht mehr auf ihn hörte.
Scipio, 30.05.2022
Helen ist es sichtlich unangenehm, dass sie den Kaffee nicht bezahlen kann, und sie hört nicht auf, verlegen in der Tasche nach dem Geldbeutel zu suchen. Ich halte dem Mann einen Geldschein hin, den er dankend annimmt, und Helen schließt vor Scham die Augen. „Das hättest du nicht tun müssen, aber vielen Dank", sagt sie, schaut mich mit großen Augen an, ihre Wangen sind gerötet, als ich ihr den Kaffeebecher in die Hand drücke. „Wenn es um Kaffee geht, habe ich einfach zu viel Mitleid mit meinen Mitmenschen", sage ich lächelnd und nehme auch meinen Becher von der Theke. Sie lacht, ein echtes Lachen, kein aufgesetztes Kichern, und es gefällt mir. Verdammte Scheiße, ich muss wirklich aufpassen. „Danke dir, damit hast du mir wirklich den Tag gerettet." „Wirklich so schlimm, dass er nur mit Kaffee zu retten ist? Das klingt ja furchtbar!" Ich lehne mich zu ihr, greife an ihr vorbei und nehme mir ein Zuckerpäckchen, dabei streife ich ihre Hand. Wir sind uns so nah, dass ich ihr Shampoo riechen kann: Pfefferminze und Zitrone, das kauft sie seit Jahren im Biomarkt. Sie schaut mir in die Augen, und es fühlt sich an, als würde die Welt kurz zum Stillstand kommen. Alter, was passiert da mit mir, ich wusste gar nicht, dass ich so schnulzig sein kann. Ich muss mich ganz dringend zusammenreißen. Ich kann mich jetzt auf keinen Fall von meinen Gefühlen kontrollieren lassen, ich muss die Sache langsam angehen, aber darf gleichzeitig nicht zu vorsichtig sein. „Wenn du Zeit hast, kannst du mir ja davon erzählen." Noch bevor sie etwas erwidern kann, nehme ich ihr den Becher aus der Hand und sage: „Das bist du mir schuldig, deine Schulden zahlen sich schließlich nicht von allein ab", was mir nochmal ein echtes Lachen einbringt. Fantastisch, wenn das so weitergeht, habe ich sie am Ende der Woche schon so weit, dass sie nur noch an mich denkt. Das wird auch dringend nötig sein, wir wollen in ein paar Wochen schon zuschlagen, jeder mit seinem handverlesenen, hochkarätigen Opfer. Die besorgten Väter und Mütter werden einen Haufen Geld an uns zahlen, damit wir ihnen kein Haar krümmen, die Übergabe wickeln wir über Schwerlast-Drohnen ab, und die Millionen kommen uns sozusagen durchs Fenster geflogen. Immer, wenn ich mir den Plan von Neuem durch den Kopf gehen lasse, hoffe ich, dass alles wirklich so reibungslos abläuft. Ich muss den Absprung schaffen, so geht mein jämmerliches Leben nicht weiter. Ich muss unbedingt etwas ändern, sonst gehe ich innerlich daran zugrunde. Ich weiß selbst nicht, wie ich so tief in die Scheiße rutschen konnte, ich hätte damals das Geld niemals annehmen sollen. Es hat alles so harmlos angefangen, ein paar Wunden versorgen, ein paar Injektionen setzen und dafür das ganze Medizinstudium mit allem Drum und Dran finanziert bekommen. Als Student hat jeder einen Nebenjob, habe ich mir eingeredet. Mir hätte klar sein sollen, dass das nicht gut geht. Ich habe mich immer damit rausgeredet, dass ich kein Teil der C.REAPER bin, da ich ja nur deren medizinische Versorgung gewährleiste. Aber mit der Zeit bin ich immer tiefer in die krummen Machenschaften der Gang reingezogen worden. Bis zu meinem absoluten Tiefpunkt, der genau jetzt gekommen ist. Entweder schaffe ich es, auszusteigen, oder ich werde unter die Erde befördert.
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Lord of Lies
Mystery / ThrillerHelen gerät in das dunkle Netz einer gefährlichen Gang, doch nicht alles ist, wie es scheint. Während sie versucht, die Wahrheit von der Täuschung zu trennen, entfaltet sich zwischen ihr und ihrem scheinbaren Widersacher eine unerklärliche Verbindun...