Kapitel 12 - Scipio

4 1 0
                                    

Scipio, 03.08.2014

Der kleine Junge war schon etwas älter. Sein Vater entdeckte das weiße Taschentuch, das er hütete wie seinen Augapfel und steckte es in Brand. Der Junge konnte den Schmerz kaum ertragen, er weinte die ganze Nacht. Als er am nächsten Morgen früh erwachte, weckte er seinen Bruder. Die Brüder packten ihre Taschen und schlichen sich durch das dunkle Haus. Sie mussten diesem Ort entfliehen. Ihre Taschen waren leer, ihre Hoffnungen auf Liebe zerstört, aber sie hatten sich. Sie würden sich immer haben.

Scipio, 02.03.2022

Nachdem ich ihr den Mund zugeklebt habe, lasse ich das Klebeband fallen, werfe einen letzten Blick in ihr Gesicht und wische ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. Ich wende mich mit einem schmerzverzerrten Gesicht ab, laufe um den Wagen herum und setze mich auf den Fahrersitz. Der nächste Halt ist die verlassene Lagerhalle, die wir als Treffpunkt ausgemacht haben. Als ich auf den abgelegenen Feldweg abfahre und die Halle von weitem erkennen kann, zieht sich in mir alles zusammen. Als könnte Helen das spüren, fängt sie an, sich in ihrem Sitz zu winden, und wirft mir flehende Blicke zu. Scheiße, ich hoffe, das alles ist bald vorbei, und ich kann sie sicher aus der Situation befreien. Kurz vor der Halle hat Belial zwei bewaffnete Wachposten aufgestellt. Sie werfen sich angespannte Blicke zu, als ich auf sie zufahre. Sie leuchten mit einer Taschenlampe in den Wagen und winken uns dann schnell weiter. Vor der Halle wartet Cyrus mit seinem Opfer, der Tochter einer hochkarätigen Politikerin. Zwei weitere Opfer stehen mit ihren Entführern in einer Reihe neben Cyrus. Ich steige aus dem Wagen, löse das Seil, das Hand- und Fußgelenke miteinander verbindet, sodass Helen stehen kann und kleine Schritte auf die Opferreihe zugehen kann. Belial strafft die Schultern und tritt vor die Gangmitglieder, die fast genauso panische Blicke wie ihre Opfer aufsetzen. „Gut gemacht, Jungs! Vor allem du, Scipio. Ich hätte niemals gedacht, dass du die Aktion ohne einen einzigen Fehler durchziehen kannst. Aber das läuft ja wie am Schnürchen, fast so gut wie der Organhandel. Wenn du so weitermachst, steht dir eine lange Karriere bei den C.REAPERn bevor." Bei dem Klang seiner Worte balle ich meine Hände zu Fäusten, damit ich nicht versucht bin, ihm den Hals umzudrehen. Ich sehe nur Helens fassungslosen Blick, als er das mit dem Organhandel erwähnt, und muss mich beherrschen, damit ich mir nicht anmerken lasse, wie sehr es mich verletzt, dass sie mir diese Aktion niemals verzeihen wird. Sie denkt, ich bin ein Monster, und das kann ich ihr nicht verübeln. Ich werde das alles niemals wieder gutmachen können, auch wenn sie unbeschadet aus der Sache herauskommt, kann ich niemals Frieden mit mir finden. Sie wird für immer in Gefahr schweben, und die C.REAPER werden niemals aufgeben; sie wird für immer in ihrer Gewalt stehen. Sie braucht jemanden, der sie beschützen kann. Und wenn ich diese Person sein könnte? Wenn ich sie überzeugen könnte, mit mir unterzutauchen? Nach diesem Job könnte ich ihr ein Leben in Sorglosigkeit und Luxus ermöglichen; ich würde uns neue Identitäten besorgen und könnte sie beschützen. Ich kenne die C.REAPER, kenne ihre Kontrollmechanismen, ihre Schwachstellen, ihre Mitglieder, ihre Geschäftsstellen, einfach alles. Ich bin mir sicher, dass ich Belial und seine Truppe von Idioten abhängen könnte, bevor jemand überhaupt merkt, was ich geplant habe. „Bringt sie rein und haltet die Telefone und Drohnen bereit, Phase zwei startet heute Abend, meine Hübschen." Wenn ich nur sehe, wie hungrig er die Opfer ansieht, könnte ich ihm die Augen so tief in den Schädel drücken, dass sie aus seinen Ohren wieder herauskommen. Mein Plan gibt mir Hoffnung; vielleicht kann ich alles doch noch zum Guten wenden, wenn ich nur irgendwie an Helen herankomme. Aber wird sie mir nochmal glauben? Sie muss es einfach tun; es ist meine einzige Möglichkeit, uns beide in Sicherheit zu bringen, auch wenn wir dafür alles hinter uns lassen müssen.

Lord of LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt