Lord of Lies

Kapitel 5 - Scipio

Scipio, 30.05.2000

Die Brüder schlossen die Tür ihres Zimmers schnell hinter sich und lehnten sich mit ihren abgemagerten Rücken gegen das Holz. Wenn sie Glück hatten, würde sich ihr Vater zurück auf den Sessel vor dem Fernseher setzen und einschlafen. Stattdessen hörten sie würgende und gurgelnde Geräusche aus dem Badezimmer. Sie öffneten die Tür einen Spalt breit, um nachzusehen, ob ihr Vater noch aufrecht stehen konnte. Ihr Vater lag mit dem Kopf auf der Toilettenschüssel, doch solange er sich bewegte waren sie beruhigt.

Scipio, 30.05.2022

„Ich bin Arzt", sage ich, während ich mich weiter im Stuhl zurücklehne. Ich sehe, wie ihre Augen anfangen zu leuchten, perfekt, dass sie darauf abfährt. „In welcher Klinik arbeitest du?" „Es ist eine kleinere Privatklinik, etwas weiter außerhalb, sie wird dir nichts sagen", lüge ich. Wenn sie wüsste, wo ich wirklich arbeite, würde sie sofort die verdammte Polizei rufen. Der heruntergekommene Schuppen, in dem wir die OPs durchführen, ist alles andere als eine Privatklinik, und niemand kann garantieren, dass man den Laden wieder lebend verlässt. Von Schusswunden, die sich die Jungs bei Auseinandersetzungen auf der Straße holen, bis hin zu illegalen Organentnahmen und Transplantationen, alles dabei. Deshalb ist es so wichtig, dass ich diesen Job nicht in den Sand setze, sonst komme ich aus der Sache nie wieder heraus und kann niemals untertauchen. Ich greife in die Hosentasche und hole Zigaretten und ein Feuerzeug heraus. Dann stecke ich eine Zigarette an und nehme einen tiefen, beruhigenden Zug. Ich kann das durchziehen, was ist ihr Schicksal schon gegen meine Situation. Sie lebt in einer verdammten Villa, macht ihren Doktor in Psychologie, ist ehrenamtlich tätig, hängt auf Galen mit stinkreichen Leuten herum und wird ohne einen verdammten Kratzer aus der ganzen Sache rauskommen. Zumindest rede ich mir das ein, damit ich mein Verhalten rechtfertigen kann. Aber wenn ich in ihre Augen sehe, spüre ich so etwas wie Mitgefühl. Ich muss wirklich verdammt aufpassen, dass diese Situation nicht eskaliert und mir vor Augen halten, was ein Versagen für mich bedeuten würde. Die C.REAPER sind erbarmungslos, was Fehler angeht; wenn die Aktion schiefgeht, werden Köpfe rollen, und zwar wortwörtlich. „Ein Arzt, der raucht?" „Ich weiß, nicht gerade sehr gesundheitsbewusst. Aber nochmal zurück zu dir, du hast gesagt, du arbeitest im Krankenhaus? Bist du auch Ärztin?" frage ich, obwohl ich eine Kopie von ihrem Stundenplan in meiner Hosentasche habe. „Ich bin Psychotherapeutin in Ausbildung und mache gerade parallel meinen Doktor." Ich ziehe zur Dekoration eine Augenbraue nach oben. „Welches Thema behandelt deine Doktorarbeit?" „Ich untersuche Emotionen und Verhaltensaspekte bei Medizinstudenten mit psychopathischen Auffälligkeiten", sagt sie und grinst mich vielsagend an. Wenn sie nur wüsste, wer tatsächlich vor ihr sitzt, würde sie wahrscheinlich nicht mehr so lachen. Ich weiß nicht, ob ich mich als Psychopathen bezeichnen würde, aber ich habe mit der Zeit definitiv gelernt, meine Emotionen auf ein gefährliches Minimum zu reduzieren. „Sehr interessant, da hättest du in meinem Jahrgang bestimmt den ein oder anderen Kandidaten untersuchen können." „Du gehörst also nicht zu den „Psychopathen" in der Medizin?" fragt sie, während sie mir intensiv in die Augen blickt. Ich lehne mich langsam nach vorne und stütze meine Unterarme auf den kleinen, wackligen Tisch vor uns, während ich meine Hände ineinander verschränke. „Sag du es mir, Helen." Fuck! Habe ich gerade wirklich ihren Namen gesagt?! Das darf nicht wahr sein! Wie konnte ich nur so unachtsam sein? Vielleicht hat sie es gar nicht bemerkt oder denkt, sie hat ihn mir vorhin schon gesagt.