„Gemutlich da oben?"
Die Stimme seines Meisters ließ Ruhn aufschrecken, sodass er beinahe aus dem Gleichgewicht geriet. Eine ganze Nacht lang kauerte er nun schon auf einem Brett an der Spitze eines sieben Meter hohen Pfahls, bis ihm die Glieder steif gefroren waren. Er vermutete dahinter eine weitere Tortur zur Stärkung seiner Willenskraft.
„Ncht wrklch.", erwiderte Ruhn, den Kiefer kaum auseinander bekommend.
„Warum bist du dann noch oben?", fragte Yunbal, der nicht erkennen ließ, ob er scherzte oder nicht.
Eine Leiter schwang zu Ruhn heran und er mühte sich, noch immer verwirrt, die Sprossen hinab. Wenig später fragte er seinen Meister bei einer dampfenden Tasse Kaffee im Studiersaal: „Warum hat es Euch so überrascht, dass ich, äh... noch oben war?"
Yunbals dunkle Augen fixierten ihn über den Rand seiner Tasse hinweg mit halbamüsierter Strenge. „Habe ich gesagt, du sollst oben bleiben?"
„Aber..." (sein Schüler senkte peinlich berührt das Haupt) „... aber wie hätte ich denn runterkommen sollen?"
„Tja, das ist die Frage! Gute Neuigkeiten: Heute Nacht verbringst du wieder dort oben." (Ruhn keuchte) „Und jetzt wenden wir uns den Schattenkreaturen zu. Welche gibt es?"
„Es gibt vier Arten: Krabbler, Greifer, Rammer und, ähm, Rücker.", betete sein Schüler tonlos herunter.
„Eine Art hast du vergessen."
Ruhn kratzte sich am Kopf. Dessen Innenleben war vergangene Nacht in die Winterstarre übergeglitten. Yunbals aufbrausende Worte prallten wie Schmiedehammerschläge auf das Gehirn seines Schülers: „DER AVATAR, JUNGE!"
Ruhn zuckte zusammen und nickte heftig, als würde ihm das Gesagte gerade wieder einfallen, während er fieberhaft überlegte, ob Yunbal oder die wenigen Schriften der verbotenen Sprache den Avatar jemals erwähnt hatten.
„Wofur brauchen wir Avatare?", bohrte Yunbal sogleich nach, dem die Unsicherheit seines Schülers offensichtlich nicht entgangen war.
„Avatare, also Avatare, nun ja, ähm... jedenfalls können Krabbler mit ihren Netzen alle verlangsamen oder mit ihrem Giftbiss töten, Greifer können Mensch und Kreaturen tragen, äh, Rücker bewegen Gebäude, während Rammer..."
„WOFUR SIND AVATARE?"
Ruhn stammelte undeutlich vor sich hin, die Hände hilfesuchend um die längst geleerte Tasse geklammert, bis ihm die Stimme versagte. Eine peinliche Stille entstand, in welcher Ruhn am liebsten mit dem Bodensatz in seiner Tasse getauscht hätte.
„Avatare sind Abbilder des Schattenlenkers, so wie Spiegelbilder aus Schatten. Sie locken den Feind auf eine falsche Fahrte. Hab ich dir nie erklart, ich weiß.", brummte die Stimme jenseits des Kaffeesatzes.
Warum zum Henker veralbert mich der Alte immer?!, dachte Ruhn zerknirscht und fühlte sich zugleich um einen Felsbrocken erleichtert.
„Die Beschworung von Kreaturen ist ahnlich wie bei Gebauden. Beginnen wir mit den Krabblern." Yunbal legte die Daumen aneinander und spreizte die übrigen Finger wie Klauen nach unten. Dann sagte er „Kerbal.", formte die Befehlspistole, ergänzte „Enovis.", und vollendete die Beschwörung (wie üblich) mit dem Abkrümmen des Daumens. Ein zehnbeiniges Wesen erwuchs aus dem Erdreich, welches erst zu wachsen aufhörte, als sich sein kugelrunder Leib auf Augenhöhe seines Meisters befand. Ruhn, der eine solche Kreatur zum ersten Mal erblickte, wich schaudernd zurück.
„Du kannst stehen bleiben. Solange kein Befehl folgt, machen die Kreaturen nichts.", erklärte Yunbal und tatsächlich: Zu Ruhns Überraschung verharrte der Krabbler reglos auf der Stelle.
DU LIEST GERADE
Im Zirkel der Schattenlenker
FantasyEine Gestalt näherte sich durchs verschneite Unterholz, hechelnd, torkelnd, eine feine Spur aus rötlichen Klecksen hinterlassend. Sie warf einen Blick zurück, stolperte, rappelte sich auf, schleppte sich weiter. Schließlich brach sie durch die Bäume...