Irgendwie hatte er es dann aber doch geschafft.
Wie? Im Steppwams eines toten Soldaten. Aus Gründen, die er nur einer höheren Macht zuschreiben konnte, wurde er auch weiterhin für einen Wächter namens Franz gehalten, dessen Ähnlichkeit ihm bereits im Kerker die Haut gerettet hatte.
Beherrscht vom Gedanken ans eigene Heil patschte Taorik durch die Pfützen des Burghofs, saugte sich für jeden, der es hören wollte, etwas über die Lage in den Verliesen aus den Fingern, marschierte wie selbstverständlich an den Torwachen vorbei und verschwand in den Straßen und Gassen der Königsstadt.
Hellunwall war einst die Bastion schlechthin gegen Schattenlenker. Die Ringstadt am Fuße der Königsburg war ein architektonisches Meisterwerk. Mithilfe von verspiegelten Mauern, verglasten Gebäuden und Laternen mit Zerstreuungslinsen hatten die Planer und Baumeister dafür gesorgt, dass es in Hellunwall keinen einzigen Schattenplatz gab. Ein System aus Kanälen sorgte für Kühlung in den Sommermonaten; die Menschen waren braungebrannt und ihre Gewänder schillerten in allen Farben des Regenbogens. Über dem dauerfröhlichen Treiben ragten fünf stabartige Türme in die Höhe, deren kugelförmige Spitzen aus Bergkristall bestanden. In ihrem Inneren konnten Leuchtfeuer entzündet werden, welche bei anhaltender Bewölkung und in der Nacht die Stadt erhellten. Ihretwegen wurde sie vom Volksmund als Stadt der fünf Augen bezeichnet.
Taorik, als Schattenlenker mit Leib und Seele, fühlte sich hier wie auf dem Präsentierteller. Im Gegensatz zum Inneren der Burg ließ ihm die Stadt keine Möglichkeit, um Schattenmagie zu wirken (abgesehen davon, dass seine Kraftreserven ohnehin erschöpft waren). Zudem ließ ihn das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden.
War da nicht gerade eine kleine, weiße Gestalt im Gewühl der Massen? Zweimal blinzeln – und weg war sie. Au weia.
Um seinen Kopf nicht zu verlieren, hielt Taorik ihn fest, während der Ellenbogen ihm half, sich seinen Weg zum Stadttor freizukeilen. Würde er dieses ebenso unbehelligt passieren können wie das Burgtor?
Er beobachtete den stetigen Zu- und Abstrom der Leute und kam zu dem Schluss, dass es am sichersten war, sich unter sie zu mischen. Um noch unauffälliger zu wirken (und um seine Nervosität abzuschütteln), versuchte er sich an einem zwanglosen Gespräch mit einer jungen Maid.
„Verzeiht, aber Ihr habt da, meines Erachtens, wenn mir diese Bemerkung gestattet ist, denn es wirkt bei näherer Betrachtung Eurer Person so, als ob Ihr, ja, aber kann das überhaupt sein, sofern meine Vermutung stimmt, dann seid Ihr doch, wenn ich mich nicht irre, was natürlich nicht ausgeschlossen ist, angesichts der Tatsache, dass meine Beobachtungsgabe unter diesen Umständen einigermaßen beeinträchtigt ist, aber ich schweife ab, denn wie bereits erwähnt, liegt es nahe, nein, näher als nahe, da es einem regelrecht ins Auge springt, dass Ihr..."
„Was wollt Ihr von mir?", fragte die Maid.
Sie hatten die Wachen unbehelligt passiert und befanden sich nun außerhalb der Stadtmauern, wo sich der Menschenstrom allmählich zerstreute.
„... dass Ihr eine Frau seid.", schloss Taorik, ließ die Maid einfach stehen und atmete den Geruch der Freiheit, der aus der Prärie zu ihm herüberwehte (und ein bisschen nach Kuhmist roch). Eine endlose Ansammlung von Gehöften versorgte Hellunwall tagein tagaus mit Nahrung. In einem davon würde er sich verstecken, bis zum Einbruch der Nacht Kräfte sammeln, um sogleich via Greifer zur Kathedrale zurückzufliegen. Da klopfte das Gewissen bei ihm an und fragte: Und was ist mit Pistoléro?
Taorik warf einen Blick zurück durch Hellunwalls Tore, hinauf zur Königsburg, in deren Eingeweiden Besagter in diesem Augenblick vielleicht um sein Leben kämpfte. Unabhängig von seinen Motiven war nicht von der Hand zu weisen, dass er Taorik das Leben gerettet hatte – und so dankte er es ihm?
DU LIEST GERADE
Im Zirkel der Schattenlenker
FantasyEine Gestalt näherte sich durchs verschneite Unterholz, hechelnd, torkelnd, eine feine Spur aus rötlichen Klecksen hinterlassend. Sie warf einen Blick zurück, stolperte, rappelte sich auf, schleppte sich weiter. Schließlich brach sie durch die Bäume...