18.01.
Warum hat sie mich am Leben gelassen? Weshalb lebe ich noch? Wofür lohnt es sich zu leben?
Der Blick auf gelbe Hände - gelbe, nutzlose Hände. Die Aktivierung der Schatulle hatte alle Gesten und Worte ihrer Wirkung beraubt; die Schattenmagie war im Abfluss der Geschichte verschwunden. Was blieb, waren die Schritte ins Ungewisse. Sie begannen vor neun Tagen an der Stadtmauer und endeten an einer Tür, die dem rätselhaften Konterfei auf dem Etikett entsprach.
Taorik zog jene Phiole hervor, welche Jarecul ihm vor seinem Tode vermachte, um erneut einen prüfenden Blick darauf zu werfen. Schließlich seufzte er.
„Das ist es wohl.", sagte er zum sandfarbenen Rappen, den er am Zügel mit sich führte.
Das Tier wieherte leise.
„Mir behagt das Ganze auch nicht", erwiderte Taorik, „aber da müssen wir wohl beide durch. Mach dir keine Sorgen - mir passiert schon nichts."
Das Tier machte sich keine Sorgen. Es hatte ohnehin kein Wort verstanden.
Taorik band es an einen nahen Baum an, bevor er den Türgriff umfasste. Er rechnete eigentlich mit einem ausgeklügelten Schließmechanismus (der sich nur mit einer bestimmten Formel öffnen ließ), wenigstens aber mit einem Wächter oder einer Falle (die nur mit schattenmagischen Fähigkeiten zu überwinden wären). Er rechnete mit allem, aber nicht mit nichts.
Die Tür schwang auf und gab den Blick in eine Art Wohnhöhle frei. Nachdem sich seine Augen an die fensterlose Düsternis angepasst hatten, entdeckte Taorik ein Bett, eine Kommode, eine Kleidertruhe, ein Schreibpult, eine Kochstelle und ein kleines Bücherregal. In der Mitte des Raumes war eine kreisrunde Markierung, in deren Zentrum eine Schriftrolle lag.
„Schön, dass Ihr da seid.", krächzte eine Stimme.
Taorik erschrak. Seine Augen huschten unruhig durch die Ecken und Winkel des Raumes. „Wer spricht da?"
Die körperlose Stimme antwortete: „Wie habt Ihr hergefunden?"
„Spielt das eine Rolle?"
„Kraaah!"
Ein Papagei?!
„Wie habt Ihr hergefunden?"
Taorik sagte: „Ein Mann, der sich selbst Torr nannte, gab mir eine Phiole. Auf dem Etikett dieser Phiole war diese Tür abgebildet und daneben irgendwelche kryptischen Koordinaten, die ich dank meiner übermenschlichen Brillanz entschlüsseln konnte." (In Wahrheit hatte Taorik einfach nur unverschämtes Glück gehabt, dass er nach vier Tagen des Umherirrens irgendwann beinahe dagegenlief.) „Aber warum erzähle ich das alles einem Vogel?!"
FLATSCH. Volltreffer!
„Lies die Schriftrolle, Dummkopf!" Verärgertes Flügelrascheln, dann Stille.
Irritiert wischte sich Taorik die Kacke vom Kopf, während er sich nach der Schriftrolle bückte. Ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte seinen Brustkorb und die Stelle, an der Jareculs Schattenklinge ihn durchbohrt hatte. Eine Narbe konnte verletztes Fleisch wieder zusammenfügen, aber jene brüderlichen Bande, die einmal zwischen ihnen bestanden haben mochten, waren in dieser Nacht für immer zerrissen. Selbst wenn die Wunde eines Tages verheilte, blieb ein nicht zu bestreitender Restschmerz, welcher eher einer Sehnsucht als einer physischen Erfahrung glich.
Taorik nahm die Schriftrolle mit nach draußen. Enthielt sie die Antworten, nach denen er seit Xanders Ermordung gesucht hatte; jene letzten Puzzleteile, die das Gesamtbild von Torrs Machwerk vervollständigen sollten?
Taorik löste die Schleife, entrollte das Pergament und begann zu lesen...
Wir sind die Achtsamen.
Denn wir haben erkannt, dass die Macht der Schatten die Dunkelheit in unseren Seelen ernährt.
Ins Leben gerufen vom Urheber des Paktes selbst ist es unser Auftrag, den Pakt zu hüten, auch wenn es bedeutet, uns selbst zu verraten.
Unser Name ist Torr.
Taorik hielt inne, um sich zu sammeln. Torr war also keine Einzelperson. Torr war eine Identität. Gesichtslos, stimmengleich - dank Kapuze und Pulver.
Wie lange mochte es dieses Credo geben? Wahrscheinlich seit dem Frieden von Braunfels. Der Urheber des Paktes: der letzte Prinzipal, Darwon Kalagas. Beide Seiten hatten sich darauf geeinigt, die Macht der Schatten zu begrenzen und zum Wohle aller zu nutzen. Im Zuge dieses Prozesses war ein Artefakt geschaffen worden, welches jeder Seite Macht über die jeweils andere verlieh und selbst das Wissen darüber wurde streng unter den Vertragsparteien aufgeteilt, bevor es einem unparteiischen Friedenswahrer überantwortet wurde.
Alles schien perfekt arrangiert. Nur Torr blieb wachsam, denn er wusste, dass wahre Macht sich keine Ketten anlegen lässt. Denn sie ist selbstsüchtig. Und sie findet einen Weg, früher oder später.
Vermutlich hatte Kalagas bereits vorausgesehen, dass seine Schülerin den Hang zum Größenwahn besaß.
Doch da stand noch mehr:
Wir agieren als Einheit: Das sehende Auge im Zentrum des Netzes verbindet sich mit der langen Hand, die es führt.
Wir beleben den größten Schrecken, bevor dieser sich selbst belebt.
Die Tragweite dieser Zeilen verschlugen Taorik für einen Moment den Atem. Wieso war er nicht selbst darauf gekommen? Im Grunde war es so simpel wie genial: Wenn innerhalb eines Krabblernetzes die Zeit langsamer ablief, verging sie außerhalb, also von innen betrachtet, schneller. Er stellte sich vor, wie Torr in seiner Höhle, dort, wo er das Pergament gefunden hatte, auf dem Boden saß, inmitten eines oder mehrerer ineinander geschachtelter Krabblernetze, während das Leben außerhalb in irrwitzigem Tempo seinen Lauf nahm. Stunden vergingen in Minuten, Wochen in Tagen und Jahre in Monaten.
Dann und wann trat er heraus, um nach dem Rechten zu sehen und mit jenem Vertrauten in Kontakt zu treten, den er unter den Magiern des Zirkels rekrutiert hatte: Jarecul. Die Auserkorenen.
Sie alle sollten Brandstifter des Schreckens sein, um einen vielfach größeren Schrecken zu verhindern.
„Das ist doch idiotisch! Hätte er den König nicht einfach warnen können?", fragte Taorik das Papier. Die einzige Erklärung, die er fand, war ebenso erschreckend wie ernüchternd: reines Kalkül. Wenn Torr sein hehres Ziel, die Machtergreifung Siastrazas zu verhindern, nicht erreichte, so profitierte er unter der neuen Vormachtstellung der Schattenlenker gleichermaßen. Das Risiko, in Ungnade zu fallen, würde dadurch aus der Welt geschafft, dass er quasi mitgeholfen hatte, das Reich zu schwächen. Egal, wie der Konflikt ausging - Torr gewann immer.
Wir streben nach einer Welt in Frieden...-
Taorik knüllte das Schriftstück zusammen und warf es fort.
Ende
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Im Zirkel der Schattenlenker
FantasíaEine Gestalt näherte sich durchs verschneite Unterholz, hechelnd, torkelnd, eine feine Spur aus rötlichen Klecksen hinterlassend. Sie warf einen Blick zurück, stolperte, rappelte sich auf, schleppte sich weiter. Schließlich brach sie durch die Bäume...