Kapitel 1

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23. September 2012
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Liebes Tagebuch,

Heute war der Tag. Der Tag, vor dem ich mich schon wochenlang gefürchtet hatte. Als ich heute bei ihm war, war er bereits dabei, seinen letzten Karton zu packen.

„Ich schwöre, du musst dir keine Sorgen machen. Ich ziehe ja nicht an's andere Ende der Welt. Marburg ist nur 5 Stunden von Berlin weg." , waren seine Worte, als er meinen besorgten Blick bemerkte. „Wir schaffen das."

„Und wenn nicht? Was, wenn du mich vergisst? Wenn du jemand besseres findest? Wenn du dich neu verliebst?", fragte ich verunsichert.

Er legte das Buch, das er grade noch in der Hand hielt, in den Karton, trat zu mir und streichelte meine Wange. Ein leichtes Schmunzeln legte sich über seine Lippen. „Ich könnte niemals jemand besseres finden als dich."

Mit Tränen in den Augen sah ich in seine, mir so vertrauten Augen. „Versprichst du mir, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist?"

„Ich verspreche es dir." , sprach er ernst. „Ich komme so oft es geht nach Berlin. Es sind ja auch nur drei Jahre, dann bin ich wieder hier. Bei dir. Für immer."
(...)
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11. Oktober 2023

Es war ein kühler Herbstmorgen in Berlin. Das Wetter war die vergangenen Tage wechselhaft gewesen. Mal strahlte die Hauptstadt bei 20 Grad im Sonnenschein, am nächsten Tag fielen die Temperaturen über Nacht um 10 Grad und der Himmel war behangen mit dunklen Wolken. Genau so ein Tag war Heute.

„Bist du schon auf dem Weg in die Uni?" , tönte es aus meinen Kopfhörern, als ich grade in die M1 stieg.

„Ja, bin so in 20 Minuten da." antwortete ich der Stimme meiner Kollegin und guten Freundin Alina.

„Hier wimmelt es nur so von Erstis. Ich habe das Gefühl, es werden jedes Jahr mehr."

„Sei doch froh.", schmunzelte ich. „Anderenfalls wären wir beide ganz schnell arbeitslos."

Ich setzte mich auf einen der wenigen, noch leeren Plätze in der Tram und stellte meine braune Ledertasche zwischen meinen Füßen ab.

„Hast ja recht.", murmelte sie. „Warst du die Nacht bei Leon?"

„Nein, ich war zuhause.", entgegnete ich. „Musste noch ein paar Sachen für Heute vorbereiten und wollte früh schlafen gehen. Wo warst du? Ich habe nicht gehört, dass du nach Hause gekommen bist und heute Morgen warst du auch nicht da."

„Ich war bei Kostja."

„Alina.", sprach ich mahnend und hörte, wie sie seufzte.

„Ja, ich weiß, was du über ihn denkst. Aber er hat sich geändert, wirklich.", beteuerte sie. „Er hat mir versprochen, so etwas nie wieder zu tun."

„Männer versprechen viel, wenn der Tag lang ist.", murmelte ich. „Wer ein Mal betrügt, wird das immer wieder tun."

„Kostja nicht.", beteuerte sie.

„Auch Kostja.", widersprach ich und schüttelte voller Unverständnis den Kopf.

„Du verstehst das nicht, Jane. Ich bin nicht wie du. Ich kann nicht so einfach loslassen."

Ich atmete geräuschvoll durch die Nase aus. Ich und einfach loslassen können. Schön wäre es gewesen. Es hatte Jahre gebraucht, bis ich an dem Punkt an kam, an dem ich heute war und dennoch ertappte ich mich manchmal noch immer dabei, wie ich jeden Mann an meiner Seite mit ihm verglich. Zu behaupten, ich hätte losgelassen - das wäre an manchen Tagen nichts als eine große Lüge gewesen.

„Manchmal hat man keine andere Wahl.", murmelte ich vor mich hin.

An der Universität angekommen quetschte ich mich durch die große Menschenmenge, die sich im Foyer angesammelt hatte. Die Einführungswoche war immer die Schlimmste. Überall liefen Erstsemester-Studenten, wie Hühner ohne Köpfe, verwirrt und orientierungslos durch die Gegend. Niemand wusste so recht, wo er hin musste. Ich lief die Treppen hinauf und zum Raum 006, in dem gleich, mit einem der Professoren, eine Informationsveranstaltung stattfinden würde.

„Guten Morgen Frau Endres. Schön, sie wieder zu sehen.", begrüßte mich Professor Hauck mit einem kräftigen Händedruck.

„Guten Morgen.", entgegnete ich freundlich.

Der ältere Herr mit schütterem Haar und großer, eckiger Brille öffnete die Tür zum Vorlesungsraum. „Dann wollen wir mal." lächelte er und lies mir den Vortritt.

Der Raum war bereits gut gefüllt und man konnte die Anspannung und Aufregung der neuen Studierenden spüren. Als Professor Hauck die Tür hinter sich schloß, verstummte das Gemurmel, das noch vor wenigen Sekunden den Raum erfüllte. Zielstrebig liefen wir die Treppen herunter und der Professor stellte sich an das große Pult vor der weißen Wand.

„Ich möchte sie hiermit als Erstsemester recht herzlich an unserer schönen Uni begrüßen." begann er seine Rede in das Mikrofon vor ihm. „Es ist schön zu sehen, dass so viele von Ihnen interessiert an der Lehre der Sozialwissenschaften sind. Wie sie bereits wissen, enthält dieses Studium einige Pflichtbereiche. In dieser Informationsveranstaltung möchte ich mit ihnen das Modul ‚Soziologische Theorie' besprechen und offene Fragen dazu gerne beantworten. Als aller erstes möchte ich Ihnen aber unsere Juniorprofessorin Frau Endres vorstellen. Sie wird den Grundkurs übernehmen und in den Semesterferien einen Forschungsexkurs anbieten."
Professor Hauck trat einen Schritt zur Seite und überlies mir das Mikrofon.

„Vielen Dank für die Vorstellung, Professor.", nickte ich ihm lächelnd zu und wandte mich wieder nach vorne. „Bitte scheuen sie sich nicht davor, mit Fragen oder Anregungen immer auf mich zu zukommen. Ich biete auch Sprechstunden an, wenn einer von ihnen thematisch etwas beisteuern möchte. Die Sozialwissenschaften leben von neuem, geistreichen Input."

Mein Blick schwang einmal durch den großen Raum, als dieser plötzlich an einem Augenpaar stoppte. Das Blau in ihnen lies meinen Atem stocken und mein Herz einen Schlag aussetzen. Ich blinzelte einmal kurz, um sicher zu gehen, dass ich das alles hier grade nicht nur träumte, doch als ich meine Augen wieder öffnete, war er immer noch da. Das Gesicht, in das ich sah, wirkte älter als das, welches ich kannte. Dennoch hätte ich es unter tausenden Gesichtern wieder erkannt. Ich zwang mich, in die Realität zurück zu kommen und atmete unhörbar durch.
„Danke für ihre Aufmerksamkeit." sprach ich und trat wieder zurück.

Den Rest der Rede von Professor Hauck nahm ich nur noch gedämpft wahr. Hin und wieder spürte ich die Blicke von ihm auf mir und zwang mich, diese nicht zu erwidern. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Er durfte nicht hier sein. Ich verfluchte mich dafür, was seine Anwesenheit in mir auslöste. Noch immer. Nach all diesen Jahren.

Als die Veranstaltung vorbei war, lies ich erst einmal alle Anwesenden den Raum verlassen, bevor ich selber die Treppen rauf und durch die Tür ging. Vorsichtig sah ich mich um. Er war nirgends zu sehen. Kurz zweifelte ich daran, dass er überhaupt da gewesen war. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, in all der Zeit, dass ich vermeintlich sein Gesicht in einer Menge sah und er dann doch nicht da war. Ich lief runter, durch das große Foyer und den Hof der Universität und als ich vor den großen Mauern zum stehen kam, atmete ich einmal tief durch.

„Jane?" hörte ich eine Stimme hinter mir fragen und mein Herz zog sich zusammen. Als ich mich umdrehte und in sein Gesicht sah, überkam mich eine Gänsehaut.

„Felix." entgegnete ich kaum hörbar und sprach zu ersten Mal seit Jahren wieder seinen Namen aus.

The Diary of Jane - Felix Lobrecht FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt