Von Geistern und Opfern

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„Harry, können wir noch einmal kurz reden?“
Harry, der die Kapuze bereits tief ins Gesicht gezogen hatte und das schwarze Tuch vor seiner unteren Gesichtshälfte richtete, sah sie skeptisch an.
„Hermine, wenn es schon wieder darum geht, dass ich hier bleiben soll...“
„Nun, ja, in gewisser Weise-“
„Bitte“, unterbrach Harry sie. „Ich verstehe deine Sorge, aber es wird alles gut gehen, ok?“
Hermine seufzte.
Sie war hin- und hergerissen zwischen ihrem logischen Verstand, der ihr entgegen schrie, dass Harry der Falsche für so eine Mission war, da der Orden ihn unter keinen Umständen verlieren durfte, und ihrem Herzen, das sich wohl fühlte bei der Vorstellung, wieder einmal mit Harry und Ron zusammen etwas zu meistern. Und leider hatte Harrys Zuversicht wie immer eine positive Wirkung auf sie.
„Ok“, gab sie sich geschlagen.
„Wollen wir?“
Es war Nott, der gefragt hatte, und gerade mit Malfoy und Zabini zu ihnen getreten war.
Die drei Slytherins trugen die gleiche Kleidung wie Hermine und ihre beiden besten Freunde sowie George und Angelina: Praktische Hosen, enganliegende Handschuhe, festes Schuhwerk und Kapuzenpullover, alles in schwarz.
Sie hatten die Sachen vom Orden zur Verfügung gestellt bekommen, sogar in ihren passenden Größen, und auf eine merkwürdige Art und Weise gab es Hermine ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, dass sie optisch alle so gleich aussahen.
Es war trügerisch, denn auch wenn sie nicht das Gefühl hatte, dass einer der drei ihnen tatsächlich bewusst schaden wollte, war sie sich doch nicht ganz sicher, wie sie sich im Zweifelsfall verhalten würden. Beispielsweise in einer Situation, wo es um ihre eigene Haut oder die eines der anderen ging.
Ihnen komplett zu vertrauen, wäre vermutlich zu viel des Guten.
„Ja, wir sind soweit“, antwortete sie auf Notts Frage.
„Na, dann wollen wir mal“, kommentierte George und klang unfassbar fröhlich dabei.
Immer wieder gruselte sein Hang zur Verherrlichung von Gefahr Hermine ein wenig.
„Unsere Stäbe“, fragte Malfoy, der als einziger noch nicht Kapuze und Halstuch zum Verdecken genutzt hatte. „Ihr habt sie dabei?“
„Wie besprochen“, bestätigte Harry und klopfte flüchtig mit der flachen Hand auf eine schmale Brusttasche, die er sich um den Oberkörper geschnallt hatte.
Malfoy schien zufrieden, denn er zog sich die Kapuze über den Kopf, achtete dabei penibel darauf, sein helles Haar vollständig zu verdecken, und zog dann das Halstuch über seine untere Gesichtshälfte.
Als er sich umwandte, streifte sein Blick Hermine, und sie konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Durch die Schwärze der Kleidung kamen seine hellen Augen noch deutlicher zur Geltung, als sie es sowieso immer taten und ließen seinen Blick noch stechender und durchdringender wirken als sonst.
Dann hieß es vorerst laufen.
Sie gingen schweigend über das Militärgelände und schließlich durch den angrenzenden Wald, bis sie die Appariergrenze erreichten.



Nott Manor.
Still und groß und dunkel lag es vor ihnen.
Selbstverständlich war Hermine noch niemals hier gewesen, aber genauso wie bei Malfoy Manor fragte sie sich, wie man sich in einem solchen Haus – wenn man dieses Wort für dieses Gebäude überhaupt verwenden konnte – wohlfühlen und dort leben konnte.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie Theodore Nott als kleiner Junge auf dem Grundstück gespielt hatte oder durch die vielen Zimmer gerannt war. Sie konnte es beim besten Willen nicht. Nichts an diesem Herrenhaus wirkte heimelig oder einladend.
Aber vielleicht täuschte sie sich. Vielleicht hatte Theodore Nott hier eine glückliche Kindheit verbracht. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie wenig sie über die Slytherins wusste.
Sie hockten im Schutze der Dunkelheit zwischen Büschen und betrachteten das riesige Anwesen.
Nur sich hier aufzuhalten, war bereits gefährlich, denn sie befanden sich hinter dem Haupttor und innerhalb des Apparierschutzes und konnten im Notfall nur fliehen, indem sie um ihr Leben rannten.
Hermine versuchte, etwas aus Notts Gesicht herauszulesen. Irgendeine Gefühlsregung. Sie wollte wissen, ob es etwas mit ihm machte, hier zu sein. Aber sein Blick war unergründlich und der größte Teil seines Gesichts durch die Maskierung verdeckt.
In diesem Moment straffte er die Schultern und nickte Harry zu, der sich wiederum an Hermine wandte und ihr ein kurzes Zeichen gab.
Alle legten eine Desillusionierungszauber über sich und Hermine sorgte dafür, dass die drei Zauberer ohne Stab ebenfalls desillusioniert waren.
Dann huschten sie über das Gelände, darauf bedacht, sich trotz des Zaubers in den tiefsten Schatten aufzuhalten und kein Geräusch zu verursachen.
George und Angelina waren dabei auffallend geschickt und schnell.
Wie geplant steuerten sie nicht den Vordereingang des Anwesens an, sondern schlichen seitlich vorbei.
„Man würde auch über das Haupthaus in das private Museum meines Vaters kommen“, hatte Nott ihnen tags zuvor erklärt. „Aber wir müssten dann nicht nur die üblichen Schutzzauber umgehen, von denen ihr wisst, sondern auf dem direkten Weg auch dutzende, gefährliche Hindernisse überwinden. Es wäre viel zu gefährlich und würde außerdem zu lange dauern.“ Und dann hatte er ergänzt: „Der Weg, den ich vorschlage, ist zwar nicht unbedingt ungefährlicher, aber er geht schneller, aber den könntet ihr ohne mich nicht nehmen.“
Seine darauffolgende Erklärung hatte sie alle sprachlos hinterlassen. Auch Hermine war sich nicht sicher gewesen, ob sie diese Aktion tatsächlich schaffen würden, sogar mit Nott als Hilfe.
Aber nun standen sie vor dem großen, schmiedeeisernen Tor, das einen kleinen Teil des Grundstücks abgrenzte, und vermutlich gab es kein Zurück mehr.
Dunkle Schatten huschten hinter dem Tor auf sie zu, gefährlich knurrend.
„Weg mit dem Desillusionierungszauber, wie besprochen!“, befahl Nott.
Die großen, schwarzen Hunde auf der anderen Seite stockten und spitzten die Ohren.
Gehorsam nahmen sie alle den Zauber von sich und Hermine löste ihn ebenfalls bei Nott, Zabini und Malfoy.
Aufgeregtes Fiepen erklang von den Hunden, die Hermine vermutlich bis zur Hüfte reichten.
„Das Schloss“, wisperte Nott Harry zu und dieser öffnete es mit einem einfachen Alohomora.
Als es aufschwang, fiel Hermine das schwarze, eiserne, geflügelte Pferd daran auf, das mit ausgebreiteten Schwingen frontal auf sie zugaloppieren zu schien und dessen Körper mit Sternen übersät war. Auf der breiten Brust des Tieres prankte ein verschnörkeltes „N“. Das Familienwappen der Notts, begriff sie.
Nott huschte vorweg durch das Tor, und sie folgten ihm sofort.
Zabini, der als letzter hinterherschlüpfte, schloss das Tor geräuschlos.
Fasziniert beobachtete Hermine, wie sechs riesengroße, schwarze Hunde mit wenigen braunen Abzeichen Nott still, aber aufgeregt umkreisten und heftig wedelten. Er tätschelte ihnen flüchtig die wuchtigen Köpfe.
„Warum können wir die Hunde nicht einfach schocken, wenn sie doch abgerichtet sind?“, hatte Ron bei der Vorbesprechung verständnislos gefragt und Nott hatte mit einer überraschenden Unnachgiebigkeit gesagt: „Den Hunden wird kein Haar gekrümmt. Ich habe das so im Griff.“
Und das hatte er tatsächlich, wie Hermine feststellte.
Als Nott behauptet hatte, dass die Hunde von klein auf gelernt hatten, weder ihn noch seine Begleitungen anzugreifen, hatte Hermine dies kaum glauben können.
„Wahnsinn“, murmelte Ron beeindruckt, denn tatsächlich schnupperten die Hunde nur kurz an jedem von ihnen und beachteten sie dann nicht weiter. Der einzige, der ebenfalls schwanzwedelnd begrüßt wurde, war Malfoy.
„Weiter“, flüsterte Nott.
Nur wenige Schritte vom Tor entfernt befand sich der Eingang zu einem steinernen Gebäude, was sich direkt neben Nott Manor befand und – laut Theodore Notts Aussage – auch einen unterirdischen Verbindungsgang zum Manor hatte. Der andere Weg, den Nott als zu gefährlich und zu langwierig kategorisiert hatte.
Vor der steinernen, wuchtigen Tür kamen sie zum Stehen.
Auch hier, der schwarze Pegasus mit Sternen und dem „N“, dieses Mal in Stein gemeiselt.
Kein Schloss, keine Klinke.
Die Familiengrabstätte der Notts.
„Weasley“, murmelte Nott, schlüpfte aus dem schwarzen Handschuh der linken Hand und hielt seine blanke Handfläche in Georges Richtung.
Wie besprochen trat George näher und hob seinen Stab.
Ein kurzes Zögern war nicht zu übersehen.
„Nun mach schon“, raunte Nott ungeduldig. „Und denk dran, es muss tief sein.“
Kein Betäubungszauber oder etwas anderes, hatte Nott ihnen eingebläut. Der Zauber würde sonst nicht funktionieren.
Etwas widerwillig hielt George seinen Stab nur wenige Millimeter über Notts Handfläche.
Eine kurze, ruckartige Handbewegung mit dem Zauberstab, ein leises Aufzischen von Nott, und als George zurücktrat, tropfte es rot aus einer tiefen Schnittwunde auf Notts Handfläche.
Die Hunde winselten beunruhigt und Nott raunte ihnen flüchtig etwas Beruhigendes zu, ehe er sich der steinernen Tür mit dem geflügelten Pferd zuwandte.
Langsam hob er die Hand, legte sie auf das verschnörkelte „N“ auf der Brust des Pferdes und ließ sie dort liegen.
Hermine sah, wie kleine Rinnsale Blut an dem Mauerwerk hinabrannen, während Nott seine Hand auf das Mauerwerk presste.
Nott hatte ihnen nur gesagt, dass sein Blut nötig war, um den Eingang zur Grabstätte zu öffnen, wie genau es vonstatten ging, hatte er nicht erzählt.
„Puritas super omnia est“, hörte Hermine ihn flüstern.
Nichts geschah.
Nott presste seine Hand etwas fester auf die Tür.
„Puritas super omnia est“, wiederholte er, immer noch leise, aber etwas deutlicher.
Hermine nahm wahr, dass Malfoy etwas unruhig wurde, als sich wieder nichts tat.
Blut tropfte mittlerweile bis auf den Boden.
Nott holte tief Luft und schloss die Augen.
Einen Moment schien er in sich und seine Gedanken versunken.
„Puritas super omnia est“, wiederholte er dann entschlossen.
Mit einem leisen, kaum hörbaren Geräusch schwang die Tür ein Stück nach innen auf.
Nott atmete erleichtert aus, ehe er mit seiner Hand kräftiger gegen die Tür drückte und sie so gänzlich öffnete.
„Warte“, flüsterte George und griff entschlossen Notts Handgelenk.
Mit zwei raschen Zauberstabbewegungen hatte er die Wunde geheilt und das Blut komplett entfernt.
Nott nickte flüchtig und schlüpfte wieder in den Handschuh.
Mit einer ruckenden Kopfbewegung signalisierte er ihnen, dass sie ihm folgen sollten.
Nachdem sie alle in die Gruft hineingetreten waren, schloss sich die Tür mit einem Schaben wieder hinter ihnen und hinterließ sie in vollkommener Dunkelheit.
„Zur Hölle, ist das gruselig“, flüsterte Ron dicht neben Hermine.
Lautlos wirkten fünf der Anwesenden einen Lumos und erhellten somit die Gruft.
Der langgezogene Raum verlor sich vor ihnen irgendwo in der Dunkelheit, lediglich die ersten steinernen Grabstätten, die sich rechts und links entlang der Wände aufreihten, eine aufwändiger verziert als die andere, waren zu erkennen.
„Gehen wir weiter?“, wisperte Harry Nott zu.
Dieser nickte.
„Vergesst nicht den Fluch“, flüsterte Nott, an sie alle gewandt. „Keiner ist davor sicher. Er kann jederzeit eintreten. Das Gebäude spürt, dass einige von euch nicht hier sein dürften. Achtet auf eure Gedanken, dann müsstet ihr es unter Kontrolle haben.“
Hermine gehorchte.
Wie Nott es ihnen tags zuvor gesagt hatte, konzentrierte sie sich fest auf den Gedanken, dass sie alle zusammenhalten mussten, dass sie auf dem richtigen Weg waren und auch das Richtige taten.
Keine Zweifel, keine Angst, hatte Nott gesagt. Zweifel und Ängste öffneten Türen für den Fluch.
Und Ron hatte leider Recht. In vollkommener Dunkelheit durch eine Grabstätte zu schleichen, lediglich mit dem Licht ihrer Zauberstabspitzen, war schon ein wenig beängstigend.
Es sind nur tote Reinblüter, sagte Hermine sich. Sie konnten ihnen nichts tun.
Beim Vorbeigehen musterte Hermine den einen oder anderen Sarkophag.
Hätte das ganze nicht etwas Bedrückendes und auch Beängstigendes, hätten die Steinsärge beinahe schön wirken können, fand sie. Sie waren aufwendig hergestellt, Verschnörkelungen eingearbeitet und Blattgold als Verzierung verwendet. Jedes Grab schien mit einem individuellen Gegenstand bestückt worden zu sein. Hermine sah Schmuck oder teure Kelche, weiter hinten im Raum meinte sie auch Schwerter zu erkennen.
In diesem Moment stoppte Nott an einem steinernen Sarg, nicht unweit von der Tür entfernt.
„Was ist los?“, flüsterte Harry.
Nott, der nah an den Steinsarg herangetreten war, schien vollkommen erstarrt.
„Nott?“, sprach Harry ihn noch einmal an.
„Theo“, mischte sich Zabini ein, als Nott immer noch nicht reagierte.
Ein Ruck ging durch seinen Körper, ehe er langsam die Hand nach dem Gegenstand ausstreckte, der dieses Grab zierte.
Wenige Zentimeter darüber schwebte seine Hand einen Augenblick in der Luft, ehe er den Gegenstand in die Hand nahm und weiterhin betrachtete.
Ein Medaillon, stellte Hermine fest.
„Was ist das?“, fragte Ron.
Wieder schien ein Ruck durch Nott zu gehen, ehe er das Medaillon in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
„Hey, warum packst du das ein?“, fragte Ron misstrauisch.
Nott drehte sich um.
„Lasst uns weitergehen“, bestimmte er.
„Moment mal!“, echauffierte sich Ron. „Warum hast du das eingesteckt?“
„Halt den Mund, Weasley“, zischte Malfoy und Hermine war sich ziemlich sicher, dass er wusste, was es mit dem Medaillon auf sich hatte.
„Ron hat Recht-“, begann Harry.
„Ganz bestimmt halte ich nicht den Mund!“, sagte Ron gleichzeitig. „Wer weiß, was er hier heimlich plant. Vielleicht ist das irgendein schwarzmagisches Artefakt oder-“
Abrupt fuhr Nott herum.
„Pass auf, was du sagst“, zischte er. „Es hat nichts mit dem zu tun, weswegen wir hier sind, also halt dich aus meinen Angelegenheiten raus, kapiert?“
Ron öffnete schon wieder den Mund, aber Harry war schneller.
„Lass gut sein, Ron“, sagte er sanft. „Wir müssen versuchen, einander zu vertrauen.“
Ron schloss seinen Mund wieder und schien alles herunterzuschlucken, was ihm auf der Zunge lag.
Nott warf ihm noch einmal einen vernichtenden Blick zu, ehe er sich umdrehte und weiterging.
Je weiter sie in die Grabstätte vordrangen, desto älter wurden die Gräber.
Und Hermine hatte sich nicht getäuscht – die älteren Gräber waren tatsächlich zum Teil mit Schwertern verziert. Wie das Medaillon lagen sie ordentlich drapiert auf den Steinsärgen.
Plötzlich hörte Hermine einen erstickten Laut hinter sich.
„Angelina, alles ok?“, fragte George erschrocken.
Die Angesprochene gab einen zischenden Laut von sich und richtete ihren Zauberstab unvermittelt auf Hermine.
Sie fühlte sich in dem Moment gepackt und zur Seite gerissen, als Angelina „Crucio“ rief.
Der Fluch zischte haarscharf an Hermine vorbei.
„Expelliarmus!“, rief Harry geistesgegenwärtig und entwaffnete so Angelina, die mit einer irgendwie nicht menschlich wirkenden Bewegung auf einen der Steinsärge sprang, wo sie in einer merkwürdig animalischen Position hocken blieb.
Ron, der Hermine so schnell beiseite gerissen hatte, hielt sie immer noch erschrocken im Arm.
Sie hatten keine Zeit zu begreifen, was hier vor sich ging, denn Angelina griff mit surrealer Geschwindigkeit nach dem Schwert auf dem Sarg und schleuderte es mit unfassbarer Präzision auf Harry.
Es war George, der es mit einem ungesagten Zauber zur Seite schleuderte, wo es klirrend zu Boden ging.

Masks and Mirrors (Dark Dramione) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt