I.

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"...woraus wir wiederum lernen, dass Kälte an sich nicht existiert, sondern bloß die Abwesenheit von Wärme ist. Zusammenfassend erklärt ist Wärme die Reibung molekularer Teilchen aneinander, durch Reibung entsteht Wärme, je schneller die Reibung, desto wärmer, je langsamer, desto kälter. Was auch erklärt weshalb es sehr wohl eine niedrigstmögliche Temperatur geben kann, nämlich dann wenn die Teilchen zum Stillstand kommen. Eine höchstmögliche existiert wiederum nicht. Die niedrigstmögliche Temperatur ist jedoch in keinem Fall gleichzusetzen..."

Mein alter Physiklehrer Mr. Timothy redete und redete und durch seine monotone Stimmlage verlor er mich an diesem Punkt endgültig.
Ich setzte meine Brille ab und rieb mir die Augen.

Vielleicht lag es daran, dass es in diesem Klassenzimmer einfach verdammt stickig war, vielleicht auch daran, dass es nur noch knappe 15 Minuten bis Unterrichtende waren, aber ich konnte mich keine Sekunde länger konzentrieren.

Es war zwar erst Anfang Juni, aber schon so heiß, dass man sich fragt weshalb die Lehrer (in den letzten Schulwochen, nach den Endjahresprüfungen) überhaupt noch unterrichteten.

Bei über 30 Grad Celsius draußen waren es in einem vollen Physikraum gefühlte 45.
Meine ratternden Gedanken übertönten Mr. Timothy's Rede und seine Worte wurden bloß noch zu einem Hintergrund Geräusch.

Hatte dieser unfassbar schöne Junge das wirklich so gemeint wie er es sagte?
'Ich finde dich ziemlich hübsch.'
Es hatte sich irgendwie gut angefühlt das zu hören, aber gleichzeitig sowas von falsch.
Ich war es einfach nicht gewohnt, dass jemand so etwas zu mir sagte, denn ich war alles andere als besonders.
Eigenartig ja, definitiv. Aber besonders? Nein.

"Ms. Morrison? Sie müssten das doch noch wissen?"
Ms. Morrison, das war ich.
Allison Morrison.
Und ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was Mr. Timothy von mir wollte.

"Was?" Die Mitschüler meines Physikkurses brachen in Gelächter aus.
"Na sieh mal einer an!" Hörte ich es ein paar Reihen hinter mir flüstern.

"kälteste Temperatur."
Zischte meine Freundin Clarice links von mir.
"Achso ja der absolute Nullpunkt liegt bei 0° Kelvin, beziehungsweise -273,15° Celsius oder −459,67° Fahrenheit."

"Richtig. Allerdings sind wir hier bekanntlicherweise in Amerika, wo allgemeinhin das Temperaturmaß Fahrenheit verwendet wird, die Celsius können Sie sich in Zukunft also sparen."
Die Affektion für die Gradeinheit Celsius hatte ich von meinem Vater, der Deutscher ist.

Mr. Timothy musterte mich mit kritischem Blick über seinen Brillenrand hinweg und ließ den Blick dann durch die Reihen wandern.
"Das war eine Wiederholung und ich bin enttäuscht, dass das kaum einer von Ihnen wusste."

Ich war Klassenbeste und ziemlich motiviert das Beste aus der Schule zu machen, er war es nicht von mir gewohnt, dass ich abwesend war.

Die anderen nannten mich eine Streberin oder Schleimerin. Natürlich war das ein ziemliches scheiß Gefühl, dafür belächelt zu werden, dass man sich anstrengt etwas aus seinem Leben zu machen, aber irgendwie ging es mir mittlerweile ziemlich am Arsch vorbei, was die meisten der Loser in meiner Stufe von mir hielten.

Ich war schon so einiges genannt worden, im Kindergarten hatten sie mich ausgelacht und Pirat gerufen, weil ich geschielt hatte und deshalb öfters eines meiner Augen abgeklebt gewesen ist.
In der Grundschule war ich die Brillenschlange, später Säbelzahn, dann Metallfresse wegen der verdammten Zahnspange, die ich in der neunten Klasse bekam.
Und das war noch nicht alles. Manchmal kam es mir vor als hätte es jeder auf mich abgesehen, das Schicksal inklusive.

Ohja, sie hatten mich so einiges genannt, aber hübsch war selten dabei gewesen.
Hübsch. Ich. Es war lachhaft, ich wusste selbst wie ich aussah.

Die große Brille auf der Nase, ohne die ich blind wie ein Maulwurf war, die Zahnspange im Mund, die Haare immer zu einem Knoten gebunden, aus dem sich ständig widerspenstige, braune Locken lösten.

Ich war das Paradebeispiel eines unterdurchschnittlich hübschen, 17-jährigen Mädchens.
Ohne eine besonders bemerkenswerte Figur, zu dünn um gut auszusehen. Hosengröße 32, was einige Mädchen wohl gerne hätten, aber ich fand es sah krank an mir aus.
Ich mochte die große Lücke zwischen meinen Oberschenkeln absolut gar nicht, träumte davon weibliche Rundungen zu haben, die Jungs attraktiv fanden.
Ich konnte essen was ich wollte, doch nahm nicht zu. Eine weitere Tatsache um die ich beneidet wurde, doch ich hasste es.

Ich war froh als die Glocke klingelte, Schulschluss. Ich war heute einfach nicht bei der Sache gewesen, was hauptsächlich an Miles lag, einem Junge aus meiner Stufe, neu an der Schule dieses Jahr.

Ich hatte den Englischkurs mit ihm und in Chemie war er glücklicherweise seit neustem mein Laborpartner. Er ist derjenige der mich hübsch genannt hatte, als wir gestern Nachmittag von der U-Bahn Haltestelle durch den Park gelaufen sind, durch den ich gehen musste um Nachhause zu kommen.

Ich weiß nicht, weshalb er mich über diese Woche hinweg jeden Tag fast bis nach Hause begleitet hat, es hatte sich einfach so ergeben.
Trotzdem rechnete ich bereits damit, dass er es heute wieder tun würde.

The Absence of Heat - Die Abwesenheit von WärmeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt