IX.

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Mein Herz klopfte so stark, dass ich mir sicher war, jeder in der letzten Reihe würde es noch hören können, obwohl ich in der vordersten saß.

Hätte ich mich doch bloß nicht so beeilt, von der Pause ins Klassenzimmer zu kommen.
Dann wäre ich jetzt nicht die erste im Chemiekurs und würde hier nicht auf glühenden Kohlen sitzen, obwohl der Unterricht erst in - ich sah auf die Uhr über der Tafel - sechs Minuten beginnen würde.

Ich hielt meinen Blick starr auf die Uhr gerichtet und mit jedem Ticken dieses Sekundenzeigers, der schon beinahe quälend langsam voran kroch, stieg die Nervosität noch ein bisschen weiter ins Unermessliche.

Als ich es gerade fast nicht mehr aushielt und zur Ablenkung aus dem Fenster sah, betrat der Lehrer den Chemiesaal und Schloss die Türe hinter sich. Er stellte sich hinter das Pult, ließ seine Tasche schwer auf die Fliesen fallen, wühlte in seinen Unterlagen und zog letztendlich einen Sitzplan hervor.

Ich sah mich um und bemerkte erst jetzt, dass der Raum sich allmählich gefüllt hatte, während ich in meinen Gedanken versunken war. Nur neben mir klaffte ein Loch, wo gerade eigentlich ein Schüler sitzen müsste.

"Gut, wie ich sehe sind wir vollzählig, Mr. Miles Lewis ist bereits entschuldigt. Dann können wir ja beginnen." Sagte er mit einem Blick auf den leeren Stuhl neben mir. Und wie um seine Aussage zu bekräftigen klingelte es just in diesem Moment.

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"Man, ich hab mir Mühe mit meinen Haaren gegeben und ich finde diese Jeans betont meinen Hintern."
Gab ich von mir während ich missmutig in meinem Cafeteria Lunch rumstocherte.

Clarice sah mich mitleidig an und nickte. Sie sagte nicht, dass es da leider nicht viel zu betonen gab, aber das wusste ich selbst.
Ich hatte ihr gerade erzählt, dass Miles nicht in der Schule war oder sich vor Chemie entlassen hatte und ich war irgendwie ziemlich gefrustet darüber, obwohl keiner was dafür konnte.

Aber es stimmte, statt dem üblichen vogelnestähnlichen Gewirr hatte ich heute mit Hilfe von viel Haarspray und einer Schwester, die im Gegensatz zu mir mit diesen Haaren klar kam, einen ordentlichen Dutt hingekriegt.

"Aaron konnte sich seine dummen Kommentare heute morgen in der U-Bahn auch nicht verkneifen. 'Hast du etwa ein Date oder warum der Aufwand Morrison? Sonst interessierts dich doch auch n Scheiß wie du aussiehst.' Gott, das ist so ein Kindergarten, was hat er bitte davon?"
Ich äffte ihn übertrieben nach.

"Al, der hat da gar nichts von. Er ist einfach nur ein minderbemitteltes Arschloch, das weder seine Schule im Griff hat, noch sein armseliges Leben. Deshalb ist er frustriert und muss seinen Frust irgendwo auslassen. Da er ja aber, wie ich eben erwähnt hatte, ein minderbemitteltes Arschloch ist, tut er dies nicht wie normale Menschen beim Sport, sondern versucht sich selbst zu größen, indem er andersartige Individuen klein macht."

Ich prustete los.
"Er versucht sich zu größen? Ist das überhaupt ein Ausdruck?"
"Psht, du ruinierst meine intellektuelle Aura!" Zischte sie mir zu.
Ich wurde ernst.
"Okay, danke sehr für diese Lektion Miss Moore." Ich tat als wende ich mich den anderen an unserem Tisch zu, bloß war da niemand.
"Habt ihr schon gehört? Unsere Highschool hat einen neuen Kurs eingeführt. Lebensweisheiten 101 unter der kompetenten Leitung einer unserer Mitschülerinnen; Clarice Moore. Jeden Montag in der Mittagspause, kommt doch vorbei!"

Als ich sie wieder ansah verdrehte sie die Augen und versuchte ihr Lachen zu unterdrücken.
"Du bist doof."
"Ich dich auch Clary."

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Als ich endlich zuhause war, zog ich mir eine Jogginghose und ein altes Shirt an, legte mich bäuchlings aufs Bett und las, froh dass dieser Schultag vorbei war.
Als es an meiner Tür klopfte und Mom das Zimmer betrat dachte ich mir nichts dabei, sie wollte mich wohl einfach begrüßen als sie um kurz vor drei von der Arbeit kam.

"Hi Mom, und wie war dein Tag?"
"Wie immer eigentlich, einer der Klienten war anstrengend, aber so ist das eben manchmal." Ihr unermüdliches Lächeln machte mich einfach glücklich. Sie arbeitete als Anwaltsgehilfin, sie verdiente nicht außergewöhnlich viel, aber zum Leben reichte es. Mit den Unterhaltsschecks, die mehr oder weniger zuverlässig jeden Monat von unserem Vater kamen allemal.

"Und deiner Liebling?"
"Wie immer eigentlich, ein paar der Lehrer und Mitschüler waren anstrengend, aber so ist das eben manchmal."
Sie lachte und gab mir einen Klaps auf den Oberschenkel.

"Ms. May und ihr Sohn, Adam heißt er glaube ich, kommen so in einer halben Stunde."
Ich sah sie verständnislos an. Wer war bitte Adam?
"Nachhilfe?" Half sie mir auf die Sprünge. Und dann fiel der Groschen.
"Oh Shit, das hab ich ganz vergessen Mom." Ich schlug mir gegen die Stirn und stand auf um mir wieder was gescheites anzuziehen.
"Dafür gibt's ja Mütter!" Zwinkerte sie mir zu.
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Als es also eine knappe halbe Stunde später klingelte saß ich gerade in der Küche und schrieb Clarice.
"Ich geh schon." Rief Mom aus dem Flur und kurz darauf betrat eine Frau Mitte dreißig die Küche, ziemlich hübsch, sehr helle Haut, blonde Haare, blaue Augen. Sie sah aus wie man sich einen Engel vorstellen würde, oder eine Elfe.

Ich dachte gerade, dass sie wohl kaum einen achtzehnjährigen Sohn haben konnte, so jung wie sie aussah, als hinter ihr ihr vermeintlicher Sohn um die Ecke kam. Und bei seinem Anblick drehte sich mir der Magen um.

Dieser Junge mit dem fast schwarzen Haarschopf und den ebenso dunklen Augen konnte wirklich unmöglich der Sohn dieser Frau sein, die aussah wie ein Engel, wo er doch der Teufel in Person zu sein schien.

Ihm stand der Schock ebenfalls ins Gesicht geschrieben, doch er fing sich recht schnell, kam auf mich zu und schüttelte mir die Hand.
"Du musst wohl Christine sein?" Fragte er scheinheilig lächelnd und ich musste meine gesamte Kraft dazu aufbringen, dass mir der Kiefer nicht runterklappte.
"Adam?" Fragte ich gepresst und gespielt freundlich, wobei ich mich fragte, weshalb ich hier mitspielte.
"Aaron. Mein Name ist Aaron." Antwortete er und ließ endlich meine Hand los. Ich unterdrückte das Bedürfnis, sie an meiner Jeans abzuwischen.

"Hallo Aaron, schön dich kennenzulernen."
"Ebenfalls Christine."
"Oh du kannst mich Allie nennen. Christine ist mein Zweitname."
Gab ich zurück, einfach weil ich das bei einer normalen ersten Begegnung so tun würde.

"Achso okay, Anne -meine Stiefmom- hat gesagt dein Name ist Christine." Bei seinen Worten sah er den Engel an, wandte sich aber direkt wieder mir zu.

Er lächelte immer noch so ekelhaft gespielt freundlich.
Und ich fragte mich mittlerweile bloß noch, was zum Geier hier verdammt nochmal schief gelaufen war.


The Absence of Heat - Die Abwesenheit von WärmeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt